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Von Dr. Ernst Pallenbach

Die stille Sucht der Frau

Vorbemerkung

„Hören wir die Begriffe "Sucht" und "Abhängigkeit" denken wir in erster Linie an Phänomene wie Alkoholismus und Heroinabhängigkeit, vielleicht auch noch an Cannabiskonsumenten. All diese Süchte sind von Männern dominiert.

Ganz anders sieht es bei der Medikamentenabhängigkeit aus, die in erster Linie ein "Frauenthema" ist. Vermutlich sind zwei Drittel der bundesweit zwei Millionen Betroffenen weiblichen Geschlechts. Doch worauf ist diese auffällige Diskrepanz zurückzuführen?

Ursachen für die stille Sucht

Beginnen wir mit ein paar grundsätzlichen, nicht geschlechtsspezifischen Punkten: Eine Vielzahl psychotroper Arzneimittel wird von Menschen missbraucht, um leistungsfähiger zu sein, um besser entspannen und schlafen zu können, um Probleme in den Hintergrund zu schieben, oder um seelische Nöte besser zu ertragen.

Woran liegt es aber, dass Arzneimittelmissbrauch und Arzneimittelabhängigkeit so wenig wahrgenommen werden und fast immer versteckt und wenig auffällig stattfinden?

Zunächst einmal sind Arzneimittel wie Zigaretten und Alkoholprodukte legal und bedürfen daher keiner Beschaffungskriminalität. Die Anwender fallen kaum auf bei der "Beschaffung ihres Stoffes". Arzneimittelmissbrauch findet heimlich, verborgen und unspektakulär statt.

Selbst in der professionellen Suchtkrankenhilfe spielt die Behandlung von Medikamentenabhängigen bisher eine untergeordnete Rolle: Das größte Problem stellt die geringe Inanspruchnahme von professionellen, suchtmedizinischen Behandlungsangeboten dar, hier bedarf es noch immenser Aufklärungs- und Motivationsarbeit. Dies betrifft im besonderen Umfang ältere Menschen. Die besonderen Lebenslagen älterer Menschen, die Zunahme von unterschiedlichen Erkrankungen im Alter, Verordnungen von Psychopharmaka sowie speziell der Verordnung von Medikamenten mit Abhängigkeitspotenzial an alte Menschen und strukturelle Mängel der stationären Altenhilfe ergeben ein Bild besonders komplexer Zusammenhänge.

Arzneimittelabhängigkeit ist häufig ein schleichender Einstieg in Sucht, oft auch aus Unkenntnis über mögliche Risiken und bisweilen unterstützt durch massive Werbung in Fernsehen und Illustrierten. Arzneimittel sind dazu bestimmt, Krankheiten zu lindern oder zu heilen. Wie soll ein Abhängiger da einsehen, dass die dauerhafte Einnahme selbst eine Krankheit sein kann? Es entwickelt sich ein unkritischer Gebrauch und ganz bestimmt kein schlechtes Gewissen bei der Einnahme. Dabei leiden die Betroffenen - meist ohne es zu wissen - an Folgeproblemen wie verminderte Leistungsfähigkeit oder gar der Gefahr medikationsbedingter Stürze und Frakturen.

Sowohl frei verkäufliche als auch verschreibungspflichtige Arzneimittel können ein suchterzeugendes Potenzial haben. Bei beiden Gruppen kann die sinnvolle Anwendung des Medikamentes entarten und das Arzneimittel zum Suchtstoff oder zur legalen (Einstiegs-) Droge werden. Und das geschieht völlig unauffällig. Medikamentenabhängigkeit bleibt daher in der Regel sehr lange ohne Behandlung. An dieser Stelle ist die fachliche wie menschliche Beratung von Apothekerinnen und Apothekern gefordert. Denn für viele Patientinnen ist die Hemmschwelle des Gangs zur Apotheke sehr niedrig. Man darf diesen wichtigen Einfluss keinesfalls unterschätzen.

Frauensucht – Gründe und Hintergründe

Die Lebensbedingungen vieler Frauen sind auch heute noch oft auf Abhängigkeiten aufgebaut. Abhängigkeiten von der Familie, dem Ehemann, sogar von den Kindern. Abhängigkeit zeigt sich in geringerem Verdienst, geringeren Chancen bei Ausbildungs- und Berufswahl und bei Einstellungen und Beförderungen. Die Frau und Mutter trägt auch heute noch meist die Hauptlast der Erziehungsarbeit. Wenn eine Frau Berufstätigkeit und Kinder vereinbaren möchte, hat sie häufig das Nachsehen. Schlecht bezahlte Teilzeitjobs oder der Verzicht auf eine eigene Karriere sind die möglichen Folgen.

Aber auch erziehungsspezifische Gründe lassen sich finden. Erziehung zu Einfühlungsvermögen, Anpassungsbereitschaft, die auf die Wahrnehmung der Bedürfnisse anderer ausgerichtet ist, ist das Muster weiblicher Sozialisation. Durch dieses geschlechtsspezifische soziale Merkmal leben Frauen einfach anders als Männer und leben Aggression, die Männer direkt mit anderen austragen, eher als Autoaggression aus. Dies entspricht der Auffassung der traditionellen Frauenrolle: Die Frau hält die Familie zusammen und sorgt für deren Wohlergehen wie auch für eine angenehme Atmosphäre in anderen sozialen Gruppen. Auch exzessives und auffälliges Suchtverhalten würde dieser gesellschaftlichen Rolle widersprechen. Der Griff in den Tablettenschrank oder der Gang zum Arzt ist dagegen unauffällig.

Frauen leben auch ihre Suchtmittelabhängigkeit anders aus, unauffälliger, leiser. Süchtige Frauen sind weniger sichtbar, Frauen trinken und torkeln nicht auf der Straße, eher allein zu Hause. Frauen greifen zu Suchtmitteln, deren Auswirkungen nicht auffällig, sondern leise und heimlich sind. Was ist dazu besser geeignet als Medikamente. Der Deckmantel der Normalität bleibt so sehr lange erhalten, „frau“ wird nicht „geoutet“, besonders dann, wenn sie gezielt in verschiedenen Apotheken einkauft.

Flucht in die Sucht – frauenspezifische Auslöser

Gründe für die Entwicklung von Sucht liegen in der Hoffnung vieler Frauen, mit „Helfern“ wie Tabletten und Alkohol den An-forderungen des Alltags besser gerecht werden zu können. Überforderung, Stress, Ängste, Trauer, Unzufriedenheit und Unterforderung können ausschlaggebend für den Einsatz von Medikamenten sein. Doch anstatt die Realität zu verändern und die eigenen Bedürfnisse direkt zu befriedigen, wird durch die Einnahme eines Suchtmittels nur die eigene Wahrnehmung verändert. Durch die Einnahme von Medikamenten fühlt sich die Frau leichter, lockerer, wohler. Dieser Zwang, sich besser fühlen zu müssen, um weitermachen zu können – sei es im Berufsleben oder in der Partnerschaft – beinhaltet einen Hilfeschrei in sich.

Am Beginn der Sucht steht also meist ein Versuch, eine einfache und schnelle Lösung für etwas zu finden, was belastet. Es gilt, weiterzuleben, Auswege zu finden. Frauentypisch ist dabei, dass diese Auswege möglichst unauffällig sein sollen. Und dass möglichst keine Personen aus dem näheren Umfeld enttäuscht oder gar geschädigt werden. Diese sozialen Fähigkeiten können in einen verhängnisvollen Teufelskreis leiten. Die Flucht in die Sucht ist eine Flucht aus Situationen, die belastend sind, Flucht aus Sackgassen, in denen die Frau keine Perspektive für sich sieht, Flucht vor dem Empfinden von Bedrohung. Flucht aus einer Welt, die keine realisierbaren Möglichkeiten der Veränderung bietet. Das Suchtmittel löst kurzfristig den Druck. Langfristig steigt allerdings die Belastung wieder, denn Schuldgefühle, Verheimlichung und ein immer grösser werdender Zwang, das Leben von Suchtmitteln bestimmen zu lassen, führen zu Isolation bis hin zum Zusammenbruch der sozialen Einbindung wie Arbeit, Wohnung, Beziehung und Kontakte.

Die Schuldgefühle sind bei suchtkranken Müttern noch verstärkt, der zwanghafte Wunsch nach dem Verheimlichen der Krankheit ist noch ausgeprägter und die Kinder übernehmen nicht selten kritische Vertuschungsaufgaben („Meine Mama hat heute Kopfweh...“). Die Fassade der Normalität kann in der Tat - ganz anders als bei Alkohol -mit Arzneimitteln sehr lange aufrecht gehalten werden.

Auswege

Die Entwicklung einer Frau zur Medikamentenabhängigkeit ist nur zu verstehen, wenn wir die Rolle der Frau in einer überwiegend von Männern geprägten Gesellschaft betrachten. Nicht immer ist sofortige Abstinenz von allen Suchtmitteln als Weg zur Heilung möglich, die Aufarbeitung der Suchtursachen erfordert dabei oft lange Prozesse. Ein Eingehen auf diese Vorbedingungen im wertschätzenden Umfeld und frauenspezifische Angebote sind unerlässlich.


Literatur:

Die stille Sucht – Missbrauch und Abhängigkeit von Arzneimitteln. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart (2009), http://www.die-stille-sucht.de


Dr. Ernst Pallenbach
Fachapotheker für Klinische Pharmazie

Keferstraße 20
78050 Villingen-Schwenningen
Tel.: +49 7721-2049700
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