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Von Christiane Jenatschke

Frauen in der Sucht- und Selbsthilfe

Meine Erfahrung als Betroffene - „Das gibt’s doch nicht!“

Mehr als 20 Jahre ist es her. Ich hatte erkannt, mit meinem Alkoholkonsum stimmt etwas nicht. Deshalb suchte ich während einer Evangelisation ein seelsorgerliches Gespräch, da ich nicht mehr aus noch ein wusste. Nicht zum ersten Mal wurde mir gesagt: „Das gibt’s doch nicht! Ein Christ kann nicht „suchtkrank“ sein!“

Eigentlich hätte mein Leben in Ordnung sein können. Meinen Wunschberuf Kinderkrankenschwester konnte ich lernen. Ich war glücklich verheiratet. Wir hatten ein kleines, aber schönes Zuhause und vier gesunde Kinder. Es gab keine finanzielle Not, da ich dank meiner Eltern, die die Kinder versorgten, stundenweise weiter in meinem Beruf tätig sein konnte.

Auch in der Gemeinde hatte ich meine Aufgaben und war vollkommen ausgefüllt. Trotzdem suchte ich nach Anerkennung und übernahm zusätzliche Dienste im Krankenhaus. Im Kollektiv wusste man, dass ich nicht nein sagen konnte. Ein Glas Wein, Bier oder auch Likör half mir, die Schüchternheit zu überwinden. Nach der Wende wurde ich gebeten, mich politisch zu engagieren und Verantwortung im Stadtrat zu übernehmen. Mein Alkoholkonsum erhöhte sich. Ich brauchte jeden Tag mein Pensum, um all die Aufgaben in Familie, Beruf, Gemeinde und Öffentlichkeit zu erfüllen.

Die Kinder litten unter der Unausgeglichenheit ihrer Mutter. Vieles versuchte mein Ehemann abzufangen. Er kümmerte sich um die Kinder und tröstete sie, wenn ich zeitig zu Bett ging oder nicht ansprechbar war. Früh half er ihnen, damit sie rechtzeitig zur Schule kamen, obwohl er selbst zur Arbeit musste. Immer wieder entschuldigte er mich. Überhaupt hielt er in dieser Zeit die Fäden der Familie zusammen. Mein Mann bemühte sich um Hilfe beim Blauen Kreuz vor Ort. Aber ich konnte und wollte die Gruppenstunden nicht besuchen. Ich schämte mich doch viel zu sehr. Angst und falscher Stolz hielten mich ab.

Immer wieder kam mir die Aussage in den Sinn, dass ein Christ nicht alkoholkrank sei. War das anfangs noch Balsam für meine verletzte Seele, so musste ich mich zusehends anstrengen, dass ich das noch glauben konnte. Denn der Alltag lehrte mich etwas Anderes. Ohne Alkohol konnte ich nicht mehr leben. Laut „Sucht – Fachsprache“ war ich ein klassischer Spiegeltrinker. Das heißt – ich brauchte ein gewisses Maß Alkohol und dann lief der Tag. Zumindest bildete ich mir das ein.

Im März 1993 fuhr ich, auf Anraten besorgter Freunde zu einer Frauenbesinnungswoche nach Rathen. Es war eine schöne Zeit. Mit dem festen Vorsatz, keinen Schluck Alkohol mehr zu trinken, kehrte ich nach Hause zurück. Aber es änderte sich nichts. Im Juni desselben Jahres nahm ich an einer Frauenerholungswoche des Blauen Kreuzes teil, weil ich völlig fertig war. Bekannte rieten mir, Kontakt zu einer staatlichen Suchtberatung aufzunehmen. Im Herbst ging ich dann für drei Wochen in eine Suchtklinik zur Entgiftung. Viel Not sah ich in dieser Zeit. Aber so schlimm wie den anderen ging es mir ja nicht und ich trank weiter. Mein seelischer Schmerz war groß – ich litt ja unter meinem Versagen. Ich schrie zu Gott – ICH wollte es schaffen. Immer wieder stand mein ICH vor mir und stand mir im Weg. Es stand zwischen mir und Gott.

Ein Jahr mit mehr Tiefen als Höhen folgte. Meine Familie litt furchtbar in dieser Zeit. Im November 1994 ging ich, völlig am Ende meiner Kräfte, aber aus eigenem Antrieb zum zweiten Mal zur Entgiftung.

Ich begann, das Netz der Unwahrheiten in meinem Leben zu entknoten. Durch eigenes Wollen, die Bereitschaft Hilfe anzunehmen, viel Seelsorge und Geduld kam langsam mein Leben in Ordnung. Ich durfte mein Leben ganz neu in Gottes Hände legen, ihm meine Angst anvertrauen und den Zuspruch seiner Liebe und die Vergebung meiner Schuld erfahren.

Meine Erfahrung als Veranstaltungsleiterin

Eine schwere, aber lohnenswerte Zeit begann. Ich brauchte nicht mehr trinken. Mein Körper erholte sich schnell. Meine „Seele“ brauchte viel länger. Ich setze mich nicht mehr unter Druck und lebte. Keine Öffentlichkeitsarbeit mehr, kaum Aufgaben in der Gemeinde. Aber ich besuchte regelmäßig die Treffen der Selbsthilfegruppe des Blauen Kreuzes und nahm 2x jährlich an einem speziellen Angebot der „Frauenbesinnungswoche“ teil. Dann kam die erste Anfrage, ob ich nicht aus meinem Leben erzählen möchte, um betroffene Frauen zu ermutigen, ihren Lebensweg ohne Suchtmittel zu gehen. Und es blieb nicht bei einem Bericht. Viele Einladungen zu Veranstaltungen des BKD e.V. folgten.

Seit 13 Jahren leite ich nun diese beiden speziellen Angebote für Frauen in Sachsen. Die Frauen hören meine Klaren, ernsten Worte. In den Gesprächen, ob Gruppen oder Einzel, spüren die Frauen, dass ich weiß, wovon ich rede und dass ich sie sehr gut verstehen kann. Ich bin selbst diesen Weg gegangen und weiß um die Kämpfe, die oft mit der Abstinenz verbunden sind. Ich bin überzeugt, dass das Gespräch von Frau zu Frau angenommen wird.

Meine Erfahrung als leitendes Mitglied eines Landesverbandsvorstandes

2009 folgte die Wahl in den Vorstand des BKD LV Sachsen. In der konstituierenden Sitzung, wurde ich zur Stellvertreterin im Vorstand gewählt. Das ist ja in den meisten Fällen eine ruhige Position. So war es auch für mich. Der damals amtierende Vorsitzende war sehr aktiv und hat seinen Platz mit sehr viel persönlichem Engagement ausgefüllt. Dadurch blieb wenig Arbeit für mich und den restlichen Vorstand.

2013 ist er nicht wieder angetreten und so viel das Los auf mich, den Vorstand zu übernehmen. Die neue Verantwortung war einesteils schmeichelhaft, aber gleichzeitig eine große Herausforderung. Ich spürte etwas von dem Vertrauen welches mir die Mitglieder entgegenbrachten. Plötzlich war meine Verantwortung noch viel größer, als in meiner aktiven Suchtzeit. Gewiss wollte ich alles „perfekt“ machen, für alles und jeden da sein. Viele Hürden waren zu nehmen. Buchhalterisch hatte ich keine Ahnung. Allerdings kamen mir dabei meine ehemals guten Noten in Mathematik gerade recht. Auch alle Anforderungen, was das Ausfüllen und beantragen von Fördermitteln, das Schreiben der Verwendungsnachweise und Berichte lasteten oft schwer auf mir. Ich erinnerte mich an meinen alten Deutschlehrer, der sehr viel Wert auf Grammatik und Ausdruck gelegt hat. In der Schulzeit habe ich das oft als nervig empfunden. Außerdem waren seitdem Jahrzehnte ins Land gegangen. Und doch merkte ich, dass das, was ich gelernt hatte, wieder in die Erinnerung gerufen werden konnte.

Es war nicht immer einfach, sich auch gegenüber den Männern in der Führung durchzusetzen. Besonders dankbar war und bin ich, dass es im Vorstand eine zweite Frau gibt, aber auch die Männer mir den Rücken stärken.

Allerdings vermisse ich bei der immer mehr anfallenden Schreibarbeit, den Kontakt zu den Suchtkranken selbst.

Glücklicherweise sind unsere Kinder alle erwachsen und haben das Haus verlassen, sodass es an dieser Stelle keine Verpflichtungen mehr gibt. Dazu habe ich einen sehr verständnisvollen Mann, der mir in vielen Situationen hilfreich zur Seite steht und mir oft den Rücken freihält. Vor allem hat er immer ein offenes Ohr für die Belange, welche nicht unbedingt in die große Öffentlichkeit gehören. Kurz gesagt für all das was oft meine Seele belastet.

Meine Erfahrung als „Öffentlichkeitsreferentin“ für die Selbsthilfe in christlichen Gemeinden und Gesellschaft

Durch die Abhängigkeit vom Alkohol und das Eingestehen der Krankheit hatte ich vorerst meine ehrenamtliche Mitarbeit in den Gemeinden meines Umfeldes verloren. Bis 1993 war ich als Mitarbeiterin und er für den Bereich „Kinder und Frauenarbeit“ engagiert. Kurz vor der Wende hatte ich ein theologisches Fernstudium absolviert. Dann, nach fast vier Jahren Abstinenz, in einer Zeit als viele Menschen im Osten Deutschlands Ihre Arbeit verloren, kam die Anfrage von der Leitung der Landeskirchlichen Gemeinschaft Sachsen, ob ich mir eine Anstellung, damals als Gemeinschaftsschwester im Verkündigungs-dienst vorstellen könnte. So begann 1997 mein hauptamtlicher Dienst in meinem Traumberuf. Damals waren es 25 %, die sich auf Gemeinschaftskreise in meinem näheren Umfeld verteilten. Mittlerweile sind daraus 45 % geworden und der Umkreis hat sich vergrößert.

Immer wieder habe ich von meiner Sucht berichtet. Das hat mir viele Türen geöffnet und es kam zu persönlichen Gesprächen. Die Meinung „ein Christ kann nicht suchtkrank sein“ war und ist weit verbreitet. Da aber der Alltag anders aussieht, wird der Mantel des Schweigens darübergebreitet.

Durch meine persönlichen Erfahrungen gelingt es mir oft, Menschen zu ermutigen, zu ihrer Sucht zu stehen und wenn nötig, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Als Frau gelingt es mir häufig auch und besonders, Frauen zu erreichen. Ganz gleich, ob es Betroffene, Angehörige oder nur Freunde sind. Ab und zu gibt es auch Gespräche mit Männern.

In den Gemeinden, auch in Blaukreuz Gruppen, stoße ich hin wieder auf Hindernisse. Die Meinung, Frauen sollen lieber schweigen in der Öffentlichkeit, ist noch die Devise Einzelner. Ich kann damit leben, wenn mir mein Gegenüber das ehrlich sagt. Ich brauche nicht das Podium, um mich selbst zu verwirklichen. Mir ist es wichtig, über meine Erfahrungen zu reden, um Menschen zu ermutigen. Sucht ist keine Schande, sondern eine Krankheit. Aber eine Krankheit, die zum Still-stand kommen kann und mit der man sehr gut leben kann.

Es fällt mir leicht, das Leben mit Abstinenz und das ehrliche Bekenntnis in der Öffentlichkeit zu vertreten.

Zwei Leitsätze aus der Blaukreuzarbeit begleiten mich.

„Hinfallen ist keine Schande aber liegenbleiben“
„Gerettet sein gibt Rettersinn“

Ich möchte mit meiner Art zu leben und zu reden, Menschen ermutigen, ihre Sucht einzugestehen und Hilfe zu suchen und anzunehmen. Aber auch Angehörige, Freunde und Kollegen sollen verstehen, dass Sucht eine Krankheit ist und Betroffene Verständnis und Hilfe brauchen, keine Isolierung oder Bevormundung.


Christiane Jenatschke
Vorsitzende BKD eV LV Sachsen

Zwickauer Str. 77
09366 Stollberg
Tel.: +49 37296 93321
christianejenatschke@remove-this.bksachsen.de