„Frauen müssen mutiger werden!“
Mein Weg in die Soziale Arbeit
Ich hatte nicht geplant, einmal Führungskraft, und schon gar nicht, gezielt Vorständin eines diakonischen Wohlfahrtsverbands zu werden. Darin bin ich nicht untypisch für meine Frauengeneration: Die meisten von uns haben keine Karrierepläne entwickelt, zumindest nicht, was die wirklichen Leitungspositionen angeht. Auch ich hatte für mich kein konkretes Konzept, keine Strategie für den beruflichen Aufstieg. Stattdessen habe ich mich immer daran orientiert, welche Arbeitsfelder mich interessierten.
Ich wollte mit Menschen arbeiten und mich sozialpolitisch engagieren. Allerdings nicht begrenzt auf den privaten Rahmen wie meine Mutter, die sich seit meinem sechsten Lebensjahr um Pflegekinder gekümmert hatte. Ich bin mit drei leiblichen Geschwistern aufgewachsen, und zu manchen Zeiten waren wir mit den Pflege- und Tagespflegekindern zu zehnt im Haus. Meine Mutter hat den Beruf der Schneiderin gelernt, war aber wegen uns Kinder zu Hause geblieben. Sie hat durch die Pflegekinder quasi ihren Beruf nach Hause geholt. Meinen Eltern war wichtig, dass auch wir Mädchen einen Beruf erlernten, mit dem wir in der Lage sein würden, auf eigenen Beinen zu stehen und uns selbst zu versorgen.
Ich entschloss mich – nach einer Berufsausbildung und einem Abitur über den zweiten Bildungsweg -, Soziale Arbeit zu studieren. Dieses Studienfach war damals meinem Eindruck nach viel politischer als heute. Ich habe mich über Jahre hinweg kommunalpolitisch in der Frauen- und Friedensbewegung engagiert und gegen Atomkraft und Aufrüstung demonstriert. Zum Ende des Studiums beschäftigte mich intensiv die Frage, wie denn die Situation von Männern und Frauen in der sozialen Arbeit aussieht. Der Studiengang Soziale Arbeit war und ist sehr frauendominiert, genauso wie die Berufswelt auch: Zwei Drittel Frauen, ein Drittel Männer. Mich interessierte, in welchen Feldern der sozialen Arbeit eher Männer und in welchen eher Frauen arbeiten, in welcher Lebenssituation sie sich befinden und welche Positionen sie bekleiden. Im Rahmen meiner Diplomarbeit habe ich mit einer Freundin zusammen eine ausführliche Untersuchung durchgeführt und statistische Daten von Einrichtungen, Trägern, Verbänden und der öffentlichen Verwaltung erhoben.
Leitung war männlich besetzt
Es wurde schnell klar: Die Leitungspositionen waren überwiegend männlich besetzt. Das Verhältnis kehrte sich praktisch um: Führungskräfte waren zu zwei Drittel Männer und zu einem Drittel Frauen. Die leitenden Männer waren durchgängig verheiratet und hatten Kinder, die wenigen leitenden Frauen waren unverheiratet und kinderlos. Sechs der wenigen leitenden Frauen haben wir interviewt. Deutlich wurde natürlich, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder gar Karriere 1983 noch fast undenkbar und das ein Hemmnis war. Allerdings wurde auch deutlich, dass die Frauen sich fast durchweg erst für eine solche Position beworben hatten, wenn andere sie aufgefordert oder ermutigt hatten bzw. sie als Dienstälteste „dran“ waren. Nur eine der Frauen sagte: Ich wollte leiten! Ich wusste, dass ich das kann!
Dieses selbstverständliche Zutrauen und diese Form von Selbstermächtigung findet man nach wie vor viel zu selten bei Frauen. Eine wichtige Erkenntnis aus der Untersuchung und den Interviews: Es gab – und gibt meiner Ansicht nach auch heute noch- zu wenig positive weibliche Vorbilder auf der obersten Führungsebene.
Mit Mut berufliche Verantwortung übernehmen
Mein beruflicher Einstieg war bereits mit Kind, und ich habe auch mit dem zweiten Kind weiter gearbeitet. Ich bin immer wieder Vorbehalten gegenüber berufstätigen Müttern und auch der Befürchtung begegnet, dass ich als junge Mutter für eine verantwortungsvolle Stelle zu wenig flexibel sein könnte.
Es waren aber nicht nur die Männer, die skeptisch waren. Auch Frauen äußerten sich kritisch, insbesondere als ich mich später auf eine Abteilungsleitungsstelle beworben hatte. Es gab damals, zumindest für westdeutsche Frauen, kein positives Bild von berufstätigen Müttern. Mit meiner Bewerbung als Abteilungsleiterin brach ich aus der traditionelle Frauenrolle aus – und handelte mir Kritik ein.
In meiner Berufsbiographie gab es immer wieder Wendepunkte, an denen ich nach einer Veränderung gesucht habe. Ich habe im Laufe der Jahre jede Chance zur Weiterentwicklung genutzt und immer nach neuen Herausforderungen gesucht. Sicher habe ich bei mancher Bewerbung auch erst einmal gezögert und mich gefragt, ob ich mir das wirklich zutraue. Solche Entscheidungen brauchen Mut und das Zutrauen, dass man die Anforderungen meistern und die Verantwortung tragen kann. Ich wünsche mir mehr mutige Frauen. Viel zu oft stellen wir unsere Bedenken und Unsicherheiten in den Fokus, statt selbstbewusst die Kompetenzen und Fähigkeiten wahrzunehmen, die wir mitbringen.
Es gab immer wieder Männer, die mir viel zutrauten und mich zu nächsten Schritten ermutigt haben. Ich habe Satzungsänderungen initiiert und umgesetzt, Struktur- und Organisationsentwicklungsprozesse gesteuert, einen Träger aus der Insolvenz begleitet, schließlich bei Fusionen mitgewirkt. Ich habe - als Abteilungsleiterin, als Geschäftsführerin und heute als Vorständin im Bundesverband - immer gerne Verantwortung für Strategie, Mitarbeitende und Finanzen übernommen.
In all den Jahren habe ich sehr bewusst nach Frauen gesucht, die in einer ähnlichen Situation waren wie ich. Erfahrungen auszutauschen, sich in den Rollenfindungen zu unterstützen und Strategien zu entwickeln – zum Beispiel, wenn es darum ging, schwierige Situationen zu meistern oder sich durchzusetzen - haben mich sehr weiter gebracht. Diese gegenseitige Solidarität unter Frauen im Beruf halte ich bis heute für extrem wichtig.
Frauen in Führung
So war es für mich schon fast selbstverständlich, das Netzwerk „Frauen in Führung“ (FiF) in Kirche und Diakonie an der Führungsakademie für Kirche und Diakonie zu initiieren. Mitglied im Netzwerk sind rund 80 Frauen, der obersten Führungsebene, mit Letztverantwortung für Strategie, Finanzen und Personal. Wir wollen die Vernetzung von Frauen in Führungspositionen in Kirche und Diakonie befördern, Frauen in Führungspositionen durch Wissens- und Erfahrungsaustausch und durch Impulse u.a. zur Personalentwicklung stärken und mittel- und langfristig zur Erhöhung des Frauenanteils in Führungs- und Aufsichtsgremien von Diakonie und Kirche beitragen. Der Austausch mit Führungsfrauen aus anderen Sparten und Unternehmen erweitert die Perspektive des Netzwerkes. Die Auseinandersetzung mit Themen, wie „Frauen-Kultur – Leitungs- und Führungskultur aus weiblicher Perspektive“, „Umgang mit Macht“, „Selbstverständnis in Religion, Struktur und Kultur“, „Widerständig?! Vom Umgang mit Widerständen in Führung“ geben Anregungen und führen zur Reflexion der eigenen Rolle und von Rollenzuschreibungen.
In dieser Hinsicht gibt es auch in Evangelischen Werk für Entwicklung und Diakonie (EWDE) noch einiges zu tun. Immerhin schreibt die Satzung des Werks seit dem vergangenen Jahr vor, dass eine ausgewogene Besetzung insbesondere von Führungspositionen mit Frauen und Männern anzustreben sei. Schaut man sich die aktuellen Zahlen aus den wichtigsten Gremien an, kann man feststellen, dass der Frauenanteil dort maximal 30 Prozent beträgt (Finanzausschuss 12 Prozent, in der Konferenz für Diakonie und Entwicklung 24%, im Aufsichtsrat 30 %, im Ausschuss Diakonie 25%).
Die Erfahrung der meisten Frauen in Führungspositionen ist (auch im sozialen Sektor): Man ist von Männern umgeben. Noch immer halten sich Frauen mit Redeanteilen zurück, nach wie vor ist eine starke Rollenaufteilung festzustellen – eine mitunter undankbare Arbeitsverteilung. Dabei lässt sich beobachten, dass Frauen oft in Krisen in Organisationen geholt werden.
Ich wünsche mir mehr selbstbewusste und mutige Frauen, die sich selbstverständlich ermächtigen und den Raum nehmen, den sie brauchen. Ich bin davon überzeugt, dass junge Frauen mutiger werden können, wenn sie Förderinnen und Vorbilder an ihre Seite haben. Ich bin aber auch davon überzeugt, dass wir - zumindest übergangsweise - eine Quote brauchen.

Maria Loheide
Vorstand Sozialpolitik
Diakonie Deutschland
Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e.V.
Caroline-Michaelis-Straße 1
10115 Berlin
Tel.: +49 30 652 11 1384
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