Frauensuchthilfe heute – fortschrittlich und wirksam
Einleitung
Ein paar Zahlen aus unserer praktischen Arbeit vorweg:
- 80 % der Hilfe suchenden Frauen kommen aus Suchtfamilien,
- 75 % der Frauen sind traumatisiert,
- 70 - 80 % der Frauen sind alkoholabhängig,
- fast alle haben Doppeldiagnosen,
- ansteigend schwerere Erkrankungen mit zunehmend längeren Behandlungszeiten
Dies ist nur eine sehr verkürzte plakative Darstellung. Doch welche gesellschaftlichen Strukturen, welche Sozialisation und damit Rollenanforderungen stehen hinter den betroffenen Frauen?
Sozialisation und Suchtrelevanz
Die kurze auszugsweise Betrachtung der weiblichen Sozialisation unter suchtrelevanten Faktoren soll im Folgenden zum besseren Verständnis der Suchtentwicklung bei Frauen beitragen.
Mädchen werden auch heute noch mehr zur Passivität erzogen als Jungen. Eigene Bedürfnisse und Wünsche und insbesondere aggressive Regungen werden häufiger unterdrückt. Das führt dazu, dass Mädchen Aggressionen eher gegen die eigene Person richten, während Jungen eher Aggressionen nach außen richten. Die Verantwortung für das Wohlergehen anderer und die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen wird hingegen mehr bei Mädchen gefördert. Des Weiteren werden ihnen engere Grenzen in Hinsicht auf ihren Bewegungs- und Entscheidungsspielraum gesetzt. So lernen Mädchen weniger, sich abzugrenzen, u.a. auch gegen Kontakte, die ihnen nicht gut tun und schädlich für sie sind.
Darüber hinaus gibt es in der Sozialisation von Mädchen die starke Betonung des Äußeren. Dadurch entstehen häufig Gefühle von Unzulänglichkeit. Das führt dazu, dass körperliche Merkmale, die diesem Ideal nicht entsprechen, unbarmherzig bekämpft werden. Hieraus entsteht eine tiefgreifende Entfremdung der eigenen Körperlichkeit.
Spätestens von der Pubertät an sind Mädchen dann mit unterschiedlichen, sich zum Teil widersprechenden Rollenanforderungen konfrontiert. Die weibliche Sozialisation hat sich tiefgreifend verändert. Durch eine bessere Bildung haben junge Frauen mehr Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten gewonnen. Dies führt aber auch zu widersprüchlichen Verpflichtungen. Frauen haben zwar seit den 1980er Jahren männliche Handlungsräume erobert, aber dies hat nicht zu einer Aufwertung von Weiblichkeit geführt. Alte und neue Lebensentwürfe stehen derzeit noch nebeneinander. Berufsarbeit und Mütterlichkeit sind Spannungspole, zwischen denen sich Frauen bewegen. Wie durch das bundesweite Forschungsprojekt der Fachhochschule Kiel „AN(N)0 2015“ belegt wurde, sind die Berufswahlentscheidungen junger Frauen vielfach abhängig von der Vereinbarkeit von Kindern und Berufstätigkeit. Eigene Bedürfnisse werden hier häufig vernachlässigt „(AN(N)O 2015“, Plößer, Micus-Loos). Hier wird dann z. B. das Suchtmittel als Spannungslöser eingesetzt.
Besonders schwerwiegende Folgen für die Entwicklung von Mädchen und Frauen haben Gewalterfahrungen. Seelische, körperliche und sexualisierte Gewalt ziehen massive Störungen nach sich, wie Ängste, Depressionen, Schlafstörungen und Posttraumatische Belastungsstörungen. Hier werden z. T. Suchtmittel eingesetzt, um diese Folgestörungen zu bekämpfen. Untersuchungen gehen davon aus, dass 60-70% der drogenabhängigen Frauen als Mädchen sexuell missbraucht wurden. Süchtige Frauen weisen eine deutlich höhere Quote psychischer Komorbidität (Depressionen, Ängste, Persönlichkeitsstörungen) als süchtige Männer auf.
Im Weiteren ist die Rolle der Frau als Mutter geprägt durch Sozialisationserfahrungen sowie gesellschaftliche Anforderungen und ist verbunden mit Einengung und Überforderung. Viele Frauen kommen aus Suchtfamilien und haben hier negative Erfahrungen gemacht. Darüber hinaus hat Sucht Auswirkungen auf die Mutter-Kind-Beziehung. Die Bindung lockert sich, da das Suchtmittel wichtiger wird als alles andere. Das führt zu massiven Schuld- und Schamgefühlen, dem Gefühl als Mutter versagt zu haben. Dieser Zustand wird als nicht aushaltbar erlebt und hat häufig weiteren Suchtmittelkonsum zur Folge. Im Hintergrund bestehen oft destruktive Partnerbeziehungen. Suchtmittelabhängige Mütter haben Angst, ihre Kinder zu verlieren, was entweder dazu führt, sich gerade in Therapie zu begeben oder aber die eigenen Schwierigkeiten zu verheimlichen.
Aus diesen o. g. Faktoren wird deutlich, dass es sich bei einer Suchtmittelabhängigkeit um eine Überlebensstrategie zum Umgang mit der unerträglichen Situation handelt. Dadurch wird aber wiederum verhindert, die belastende Situation konstruktiv zu bewältigen.
Frauenspezifische Suchtarbeit
„Weibliche Sucht wird schneller tabuisiert, häufiger stigmatisiert und findet meist im Verborgenen statt. Darüber hinaus nehmen Frauen therapeutische Angebote deutlich weniger wahr als Männer. Während ein Drittel der globalen Drogenkonsumenten Frauen und Mädchen sind, ist nur einer von fünf Behandlungsempfängern weiblich.“ (Ärzteblatt März 2017)
In gemischten Suchthilfeeinrichtungen sind Frauen in der Minderheit und damit den entsprechenden Folgen ausgesetzt. Die Arbeit ist meist auf Männer ausgerichtet. Bei einem Minderheitenstatus berichten Frauen davon, für sie relevante Themen nicht ansprechen zu können (z. B. Gewalterfahrungen).
In der Mitgliederzeitung der Techniker Krankenkasse vom 09/14 wird die Notwendigkeit von geschlechtsspezifischer Betrachtung und Behandlung von allen Aspekten der Gesundheit thematisiert. Beispielsweise wird angeführt: „In der Medizin und in der Forschung sind nach wie vor Männer die Norm" und „Männer und Frauen denken anders, sehen anders aus und verhalten sich unterschiedlich. Doch dass diese Verschiedenheit der Geschlechter auch für die Medizin eine entscheidende Rolle spielt, ist noch lange nicht allgemein bekannt." Die Suchterkrankung ist also niemals geschlechtsneutral. Die Berücksichtigung des Geschlechts bei der Arbeit mit suchtkranken Frauen wird von uns als Notwendigkeit betrachtet und drückt sich in der Arbeit entsprechend aus.
In der Frauensuchthilfe des Trägers Frauen Sucht Gesundheit e. V. wird den Problemlagen von Frauen entsprechend ein differenziertes Angebot vorgehalten, das die verschiedenen Lebensrealitäten der Frauen widerspiegelt und ihnen hilft, ihren eigenen Weg aus der Sucht heraus zu finden.
In Frauengruppen erfahren sie eine Rollenerweiterung, durchleben Wertschätzung und Konkurrenz unter Frauen. Sie erlernen weibliche Strategien und Kompetenzen im Umgang mit Lebenskrisen durch das Mitteilen und Miterleben mit anderen Frauen.
Gleichwohl machen Frauen unterschiedliche Erfahrungen von Anerkennung und Abwertung, haben unterschiedliche soziale und materielle Voraussetzungen, die sich in ihrem Selbstkonzept niederschlagen, ihr Bild von der gesellschaftlichen Realität formen und in die Ausprägung ihrer Weiblichkeit einfließen.
Alte Frauen, Mütter mit kleinen Kindern, berufstätige, arbeitslose Frauen und Migrantinnen verbindet das Frausein an sich und die hinter der Sucht stehende Dynamik, aber sie unterscheiden sich in ihren aktuellen Lebensrealitäten und brauchen differenzierte Konzepte und Angebote. Auf diese Unterschiedlichkeit bezieht sich u.a. die frauenspezifische Suchtarbeit von Frauen Sucht Gesundheit e. V.
Für die frauenspezifische Therapie gilt das Grundprinzip der Parteilichkeit und Ressourcenorientierung. Zudem sind das Herstellen positiver Bindungserfahrung, das Vermitteln von Wertschätzung, Empathie und Vertrauen zentrale Elemente frauenspezifischer Suchthilfe. Dies ist entscheidend auf dem Hintergrund negativer Bindungserfahrungen in der Kindheit und in der aktuellen Situation. Darüber hinaus ist traumasensibles Arbeiten eine der Grundvoraussetzungen, um den betroffenen Frauen Sicherheit zu vermitteln. Frauen müssen ein Gefühl für ihre eigenen Grenzen bekommen und lernen, die Kontrolle über ihr Leben zu übernehmen. Ziel ist es, das eigene Leben aktiv zu gestalten und Selbstwirksamkeit zu erleben.
Zielgruppen
Zielgruppen sind alle abhängigen und gefährdeten Frauen. Die hinter der Abhängigkeit stehende Problematik und Dynamik ist dieselbe. Suchtübergreifendes Arbeiten ergibt sich hieraus als Selbstverständlichkeit.
Trotz vieler Gemeinsamkeiten handelt es sich aber um eine heterogene Gruppe mit spezifischen Anforderungen. In der Frühintervention, Beratung und Therapie gilt es, dies zu berücksichtigen. Die Kombination von suchtmittelübergreifender Arbeit unter der Beachtung der Besonderheiten und Differenziertheit macht ein qualitativ hochwertiges Angebot aus.
Das Suchtmanifestationsalter ist hier als wesentliches Unterscheidungsmerkmal zu nennen. Alkoholabhängige Frauen mit einem Suchtkrankheitsbeginn unter 25 Jahren haben häufig Gewalterfahrungen, sind oft schlechter ausgebildet, instabiler im Berufsleben und weisen mehr negative psychische und soziale Konsequenzen des Suchtmittelkonsums auf. Je jünger der Eintritt in die Sucht ist, desto mehr Reifungsprozesse fehlen. Zudem gibt es langjährig Abhängige, die mit ihrer Sucht alt geworden sind. Ebenso aber auch viele Frauen mit einer späten Suchterkrankung nach dem 40. Lebensjahr. Hier spielen Verwitwung, Armut und fehlende soziale Kontakte eine Rolle. Entsprechend der später dargestellten rollenbezogenen Verschreibungspraxis findet sich hier eine gehäufte Benzodiazepinabhängigkeitsrate.
Die Klientinnen unserer Einrichtung leiden zu ca. 75% an den oft komplexen Folgen traumatischer Erfahrungen (körperliche, sexualisierte, seelische Gewalterfahrungen), die insbesondere in frühen Lebensabschnitten entstanden sind. Die von traumatischen Erfahrungen betroffenen Frauen setzen Suchtmittel in Form einer Selbstmedikation ein, um sich zu beruhigen oder schmerzhafte Gefühle nicht mehr spüren zu müssen. Die Störungen Sucht und Trauma beeinflussen sich hier gegenseitig negativ. Für die Frauen ist es schwierig, die Abstinenz dauerhaft zu halten, da sich in abstinenten Phasen die Traumafolgen häufig verstärkt zeigen und das Suchtmittel dann wieder zur Bewältigung eingesetzt wird. Gleichzeitig erhält chronischer Substanzmissbrauch die Symptome der Traumafolgen aufrecht. Unter Suchtmittelkonsum laufen die Betroffenen darüber hinaus verstärkt Gefahr, erneut Opfer von Gewalt zu werden, sodass es hier wiederholt zu Traumatisierungen kommen kann und häufig kommt.
Ca. 70-80 % unserer Klientinnen sind alkoholabhängig oder leiden an Politoxikomanie mit einer Alkoholproblematik. Alkohol führt bei Frauen zu deutlich früheren und gravierenderen körperlichen Schäden als bei Männern. Frauen trinken aus Scham- und Schuldgefühlen eher heimlich. Sie erfahren negativere Reaktionen bei Betrunkenheit als Männer. Für Frauen gelten andere Normen in Bezug auf den Alkoholkonsum. Geselligkeits- und Genusstrinken spielt eine wesentlich geringere Rolle. Frauen setzen den Alkohol eher ein, um unangenehme Gefühle zu betäuben. Häufig neigen sie zu abhängiger Beziehungsgestaltung und haben oft süchtige Partner. Konflikte im nahen Umfeld sind verbreitet.
Mädchen und Frauen mit problematischem Medienkonsum oder einer Abhängigkeit sind zunehmend als eine weitere Zielgruppe zu benennen. Sie setzen ihren Schwerpunkt im Bereich der Medien bei den sozialen Netzwerken, nutzen das Onlineshopping verstärkt, aber spielen auch zunehmend Onlinespiele. Schwerpunkte in Bezug auf die Altersverteilung bilden die Mädchen und jungen Frauen sowie die Frauen in der Altersgruppe nach der „Familienphase". Einsamkeit und der Wunsch nach Beziehung und Kontakt sind hier u.a. die Motive.
Auch die Problematik der Angehörigen suchtkranker Menschen ist ein Frauenthema, da es vielmehr die Frauen sind, die weit über die eigenen Kräfte hinaus jahrelang ihre süchtigen Partner unterstützen. Angehörige Männer verlassen ihre süchtige Partnerin häufig zu einem früheren Zeitpunkt. Auch sind es eher die Mütter suchtmittelabhängiger Kinder, die um Beratung nachfragen als die betroffenen Väter. Der Hintergrund hierfür sind unterschiedliche Sozialisationserfahrungen. Mädchen und Frauen sind nach wie vor eher zuständig für die Beziehungen und damit für die Bedürfnisse anderer. So denken Frauen in weit größerem Maße als Männer neben ihrer Berufstätigkeit auch immer die Familienaufgaben mit. Frauen fühlen sich stärker verantwortlich, wenn Probleme in Beziehungen und Familie auftreten und entwickeln z. T. massive Schuldgefühle. Dies trifft im besonderen Maße auf Mütter zu.
Die Folgen der oft lang andauernden Belastungssituation für die Angehörigen können massiv sein. Auf der körperlichen Ebene leiden sie häufig unter chronischen Erschöpfungszuständen, einer Schmerzsymptomatik, hohem Blutdruck und Schlafstörungen. Als psychische Folgen treten Depressionen, Ängste bis hin zu einer eigenen Suchterkrankung auf. Soziale Folgen reichen u.a. von Isolation, finanziellen Problemen bis zu Gewalt in Zusammenhang mit der Sucht.
Fazit
Qualifizierte Hilfen für Suchtkranke erfordern frauenspezifische Angebote, die sowohl suchtmittelübergreifend als auch differenziert ausgerichtet sind. Dafür ist nicht in erster Linie das Suchtmittel entscheidend, sondern das Geschlecht, das Einstiegsalter, aversible Gefühle mit der hinter der Sucht stehenden Problematik sowie Sozialisation und gesellschaftliche Bedingungen.
Frauen Sucht Gesundheit e. V.
Frauen Sucht Gesundheit e. V. (FSG) ist der einzige feministische und damit explizit frauenspezifisch orientierte Träger im Suchtbereich in Schleswig-Holstein. Die Angebote richten sich an alle Frauen mit problematischem Konsum von Alkohol, Medikamenten, Drogen, Nikotin, Glückspiel und Medien sowie angehörige Frauen aus Kiel und S-H.
Grundlage der Arbeit von FSG ist die Erkenntnis, dass Frauen und Männer vor dem Hintergrund ihrer verschiedenen Lebensbedingungen in unterschiedlicher Weise süchtiges Verhalten entwickeln. Bei Frauen spielen in besonderer Weise sexuelle und körperliche Gewalterfahrungen und/oder Bindungstraumatisierungen eine Rolle. Abhängiges / süchtiges Verhalten ist in diesem Zusammenhang als eine vermeintliche Konfliktlösungsstrategie zu verstehen, wenn andere Möglichkeiten nicht gesehen werden oder nicht zur Verfügung stehen. Das süchtige Verhalten hat die Funktion ein „Überleben“ in schwierigen Lebenssituationen zu ermöglichen, meist allerdings auf Kosten der körperlichen und psychischen Gesundheit, der Eigenverantwortung und des Selbstwertgefühls. Zudem verhindert süchtiges Verhalten die Entwicklung von konstruktiven Bewältigungsstrategien. Abwertungen, Belastungen und Überforderungen werden nicht erkannt. Mit dem Suchtmittel lernen Frauen über ihre Grenzen hinweg zu funktionieren. Vor dem Hintergrund starker Schuld- und Schamgefühle wird die Sucht häufig lange heimlich aufrechterhalten.
Das Ziel von FSG in Beratung, Therapie und Betreuung ist es, Frauen frühzeitig anzusprechen, ihnen Freiräume zur Verfügung zu stellen, in denen sie sich selbst annehmen, die Hintergründe ihrer Suchtentwicklung begreifen und aufgeben können, um dann neue Perspektiven zu entwickeln und Handlungsmuster auszuprobieren.
Frauen Sucht Gesundheit e.V. unterhält zwei Einrichtungen:
- Die Frauensuchtberatung Schleswig-Holstein
- Heim-Vorteil – ambulante Betreuung
In beiden Einrichtungen werden die Interessen, Bedürfnisse und Erfordernisse von suchtmittelabhängigen und angehöri-gen Frauen in den Mittelpunkt der Angebote gestellt, die spezifischen Lebensbedingungen berücksichtigt, auf verschiedenen Wegen aus der Sucht begleitet.

Angela Sachs
Diplom-Sozialpädagogin, Sozial-Betriebswirtin
Geschäftsführerin Frauen Sucht Gesundheit e. V.
Holtenauer Straße 127
24118 Kiel
Tel.: +49 431 6 15 49
sachs@ fsg-sh.de