Geschlechterbewusste Soziale Arbeit
Vorbemerkung
Soziale Probleme und Handlungskonzepte der Sozialen Arbeit sind mit gesellschaftlichen Vorstellungen von Geschlecht verknüpft. Welche Vorstellungen und (wertenden) Zuschreibungen von Weiblichkeit und Männlichkeit die professionelle Soziale Arbeit prägen, wird jedoch nicht immer systematisch reflektiert. Geschlechterbewusste Soziale Arbeit entsteht in Projekten feministischer Sozialarbeit im Kontext der zweiten Frauenbewegung. In der offenen Jugendarbeit, zunächst mit Ansätzen der Mädchenarbeit, später der Jungenarbeit, entwickeln sich in den 1980er Jahren Konzepte geschlechterbewusster Arbeit. Vielfältige Impulse beispielsweise aus der Antirassismusarbeit, der kritischen Männlichkeitsforschung sowie queeren Bewegungen führen zur Weiterentwicklung von geschlechterreflexiven Ansätzen bis heute (Ehlert 2016). So hat sich auch eine geschlechterbewusste Suchtarbeit etabliert, was sich in zahlreichen Veröffentlichungen sowie in den Stan-dards der Praxis widerspiegelt (Heinzen-Voß/Stöver 2016).
Seit mehr als vierzig Jahren haben zudem Theorieentwicklungen der Geschlechterforschung, der Queer Studies sowie der Sozial- und Kulturwissenschaften die Debatten über Soziale Arbeit und Geschlecht geprägt. Die Kategorie Geschlecht wird dabei auch in ihrer Verwobenheit mit anderen Kategorien sozialer Ungleichheit reflektiert und eine geschlechterbewusste Praxis zielt auf die Überschreitung, Vervielfältigung und Verflüssigung starrer Zuschreibungen. Im Zentrum dieses Beitrags stehen die Grundlagen einer geschlechterbewussten Sozialen Arbeit und Fragen nach der Bedeutung von Geschlecht im professionellen Handeln und im Kontext der Lebenswelt und Lebenslagen der Adressat_innen. Um die unterschiedlichen theoretischen Perspektiven auf die komplexe Kategorie Geschlecht und ihre jeweiligen Implikationen für die Soziale Arbeit nachvollziehen zu können, werden im Folgenden vier Analyseebenen unterschieden.
1. Geschlecht als Strukturkategorie
Geschlecht als Strukturkategorie setzt voraus, dass Gesellschaft als gesamtes Gefüge durch Geschlecht mitstrukturiert wird. Dies bringt der Begriff Geschlechterverhältnis auf den Punkt, der betont, dass Frauen und Männer als soziale Gruppen (nicht als Individuen) im Verhältnis zueinander stehen, beispielsweise im Bildungswesen oder auf dem Arbeitsmarkt. Es handelt sich um ein metatheoretisches, herrschaftskritisches Konzept, mit dem auch die verdeckten Momente von Ungleichheit zwischen den Geschlechtern analysiert werden (Becker-Schmidt 1993, Bereswill 2016). In der Männlichkeitsforschung wird mit Connells Konzept der hegemonialen Männlichkeit und mit Bourdieus Theorie der männlichen Herrschaft (Connell 2015, Bourdieu 2005) nach Ungleichheiten in Geschlechterverhältnissen gefragt. Die skizzierte Strukturperspektive ist für eine geschlechterbewusste Soziale Arbeit grundlegend, weil offene und verborgene Mechanismen der Reproduktion von Geschlechterverhältnissen im Zusammenhang mit komplexen Ungleichheitslagen und sozialen Problemen greifbar werden, beispielsweise in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, in der Familienpolitik sowie der gesellschaftlichen Arbeitsteilung.
2. Geschlecht als soziale Konstruktion
Mit Geschlecht als soziale Konstruktion richtet sich der Fokus auf das Zusammenspiel von implizitem und explizitem Wissen, Handeln und wechselseitigen Interpretationsleistungen von Subjekten in konkreten sozialen Kontexten. Geschlecht ist ein Interaktionseffekt und keine Wesenseigenschaft. Der Ansatz sensibilisiert für geschlechtsbezogene Zuschreibungen und für ‚blinde Flecke’ in der Reproduktion von Geschlechterordnungen und Hierarchien in der Praxis der Sozialen Arbeit. Prozesse des Doing Gender finden alltäglich in der Interaktion zwischen den Adressat_innen und den Fachkräften, sowie in Teams und Organisationen statt. Geschlecht begegnet professionell Handelnden zumeist implizit in Deutungsmustern zu sozialen Problemen, sozialer Kontrolle oder Hilfebedürftigkeit. Diese Gemengelage von wechselseitigen Wahrnehmungen und Zuschreibungen strukturiert die Interaktion zwischen Adressat_innen und Fachkräften. Auf beiden Seiten werden Erwartungen, Problemwahrnehmungen und Deutungen der Situation implizit und explizit von Geschlechterkonstruktionen und Inszenierungen mitbestimmt. Alltägliches Geschlechterwissen – im Körpergedächtnis, in der Körpersprache, im Handlungswissen – wird in der Regel nur explizit, wenn dies gezielt reflektiert wird. Reflexionen können durch Irritationen sowie durch bewusste Beobachtungssequenzen und Gedankenexperimente initiiert werden. Soziale Arbeit ist hierbei aufgefordert, implizite und explizite Zuschreibungen aufzudecken, zu thematisieren und in ihrer Wirkung zu reflektieren.
3. Geschlecht als Konfliktkategorie
Subjekttheoretisch ist Geschlecht als Konfliktkategorie zu betrachten. Von Interesse sind die eigensinnigen Aneignungs- und Verarbeitungsmuster von Menschen im Umgang mit Differenz und Hierarchie. Dies fokussiert die intrasubjektiven Konfliktdynamiken des Subjekts ebenso wie die intersubjektive Aneignung oder Zurückweisung sowie Transformation kultureller Konstruktionen von Geschlechterdifferenz (Bereswill 2014, Ehlert 2012). Die lebenslang konflikthaften Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen Identitätszwängen und die brüchigen und ambivalenten Dimensionen von Identität werden zugänglich (Becker-Schmidt/Knapp 1987). Eine biographische Perspektive ist hier hilfreich, um die Bedeutung von Geschlecht im lebensgeschichtlichen Prozess zu verstehen und zu rekonstruieren. Wie deuten und verarbeiten Men-schen ihre lebensgeschichtlichen Erfahrungen im Umgang mit gesellschaftlich vorstrukturierten geschlechtsbezogenen Erwartungen? Wird Geschlecht in biographischen Selbstentwürfen manifest thematisiert? Welche anderen Ungleichheitsrelationen treten möglicherweise in den Vordergrund der (Selbst)Positionierung von Menschen?
4. Geschlecht und Sexualität aus der Perspektive der Queer Studies
Die Dekonstruktion von Geschlecht und Sexualität aus der Perspektive der Queer Studies stellt die Normierungen, Hierarchisierungen und binären Codierungen von Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität grundlegend in Frage. Starre Identitätsvorstellungen werden zurückgewiesen und vielfältige geschlechtliche und sexuelle Lebensweisen entpathologisiert. Geschlecht wird diskurstheoretisch als sprachgebundene, aber auch körperbezogene Aufführung binärer Codierungen analysiert, diese zu entlarven und überwinden erfordert, jede Vorstellung eines festen Kerns von Geschlechterdifferenz aufzugeben. Soziale Arbeit gewinnt aus dieser Perspektive starke Impulse zur kritischen Reflexion von dominanten Normalitätsvorstellungen und gewaltförmigen Identitätslogiken. Solche Zumutungen zu irritieren sowie auf Diskriminierungen und Ausgrenzungen aufmerksam zu machen, gehen dabei Hand in Hand. Hier zeigen sich Anschlüsse zwischen einer inklusiven menschenrechtsbasierten und einer geschlechterbewussten Sozialen Arbeit, die die Sichtbarkeit und Förderung von geschlechtlicher Vielfalt voranbringt und die alltäglichen Zumutungen von Heteronormativität nicht weiter fortschreibt.
Literatur:
- Becker-Schmidt, Regina (1993): Geschlechterdifferenz – Geschlechterverhältnis: Soziale Dimensionen des Begriffs „Geschlecht“. In: Zeitschrift für Frauenforschung 1 u. 2, S.37–46.
- Becker-Schmidt, Regina /Knapp, Gudrun-Axeli (1987): Geschlechtertrennung – Geschlechterdifferenz. Suchbewegungen sozialen Lernens. Bonn: Neue Gesellschaft.
- Bereswill, Mechthild (2014): Geschlecht als Konfliktkategorie. In: Behnke, Cornelia /Lengersdorf, Diana /Scholz, Sylka (Hrsg.): Wis-sen – Methode – Geschlecht: Erfassen des fraglos Gegebenen. Wiesbaden: Springer VS, S.189–200.
- Bereswill, Mechthild (2016): Hat Soziale Arbeit ein Geschlecht? Berlin: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V.
- (5) Bourdieu, Pierre (2005): Die männliche Herrschaft. Frankfurt a.M.: Sukamp
- Connell, Raewyn (2015): Der gemachte Mann. Wiesbaden: Springer VS.
- Ehlert, Gudrun (2012): Gender in der Sozialen Arbeit. Konzepte, Perspektiven, Basiswissen. Schwalbach/Ts.: Wochenschau.
- Ehlert, Gudrun (2016). Kritik, Reflexion und Dekonstruktion. Der Einfluss der Frauen- und Geschlechterbewegungen auf die Soziale Arbeit. In. Soziale Passagen, Heft 2/2016, S.217 – 233.
- Heinzen-Voß, Doris/ Stöver, Heino (Hrsg.) (2016): Geschlecht und Sucht. Wie geschlechtersensible Suchtarbeit gelingen kann. Lengerich: Papst Sciences Publishers.

Prof. Dr. phil. Gudrun Ehlert
Dekanin der Fakultät Soziale Arbeit
Hochschule Mittweida
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