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Von Präsident Ulrich Lilie

Digitalisierung – Chance und Verantwortung der Diakonie

Vorbemerkung

Die Digitalisierung verändert unsere Gesellschaft grundlegend – und damit auch die Arbeitsfelder der Diakonie im Sozial- und Gesundheitswesen. Vieles ist segensreich und bietet große Chancen. Doch die in nächster Zukunft zu erwartenden Umwälzungen in fast allen Lebensbereichen bergen auch enorme Risiken, denen wir uns zu stellen haben.

Stichwort Arbeitsmarkt: Nach einer im September 2018 veröffentlichten Studie des Weltwirtschaftsforums könnten schon bis 2022 weltweit rund 75 Millionen Arbeitsplätze wegfallen oder durch Maschinen ersetzt werden. Zugleich sollen in den kommenden fünf Jahren global 133 Millionen neue Stellen geschaffen werden, für die aber neue Fachkenntnisse nötig sein werden. In Deutschland sind der Untersuchung zufolge nur 46 Prozent der Arbeitnehmer für die neuen Jobs gewappnet.

Was bedeutet das für den sozialen Frieden in unserem Land? Wie kann eine sinnvolle Kombination von Erwerbsarbeit, freiwilligem Engagement und Familienarbeit Einkommen, Teilhabe und Sinn ermöglichen?

Aufgabe der Diakonie muss es sein, diesen Prozess um der Menschen willen so zu begleiten, dass Chancen für alle genutzt werden und die sozialen Folgen im Blick bleiben, so dass niemand auf der Strecke bleibt.

Digitale Transformation – Neue Chancen im Alltag

Klar ist, es gibt kein Zurück. Unsere Gesellschaft ist schon längst auf dem Weg der digitalen Transformation. Und viele Menschen erfahren diesen Wandel auch als große Erleichterung: Menschen mit Behinderungen etwa können nun Hilfsmittel erhalten, die ihnen mehr Selbstbestimmung und einen höheren Aktionsradius ermöglichen. Mit dem Lorm Glove, einem Handschuh mit winzigen Sensoren und Motoren, der im Labor der Berliner Professorin Gesche Joost entwickelt worden ist, können taubblinde Menschen digital kommunizieren und z.B.Texte per SMS und E-Mail versenden sowie auf Facebook oder Twitter posten. Dank Spracherkennung und Videokameras lassen sich Menschen, deren körperliche und sinnliche Wahrnehmung eingeschränkt ist, sicher durch die Umwelt führen.

Und in Kliniken und stationären Einrichtungen können elektronische Helfer dazu beitragen, den Arbeitsalltag des Personals zu vereinfachen – sei es durch Unterstützung mit Pflegerobotern, durch die digitale Erfassung von freien Betten oder eine elektronische Krankenakte. Damit die Pflegenden sich endlich wieder mehr Zeit für ihre Patientinnen und Patienten nehmen können.

Big Data...und die Frage des richtigen Umgangs

Diese neuen Formen der Sammlung, Verknüpfung und Auswertung digitaler Informationen stellen uns aber auch vor Herausforderungen. Mit „Big Data“ stellt sich die Frage: WemgehörendieseDaten? DemPatienten? Der Klinik? Der Krankenkasse und dem Sozialversicherungsträger? Und was geschieht damit? Wenn Daten das Gold des 21. Jahrhunderts sind, kann es nicht sein, dass einige wenige im Besitz der digitalen Plattformen und der dahinter stehenden enormen Informationsfülle sind. Wir müssen darüber reden, wie wir das demokratisieren: teilhabeorientiert, mit allgemeiner Zugänglichkeit und mit einer demokratischen Steuerung von Macht und Wissen. Die starke Marktposition von Konzernen wie Amazon, Apple, Google und Microsoft muss reguliert werden, wenn wir weiterhin selbstbestimmt in einer solidarischen Gesellschaft lebenwollen.

In Zeiten von „Big Data“ muss der Umgang mit Wissen gesellschaftlich ausgehandelt werden. Aufgabe der Diakonie ist, Perspektive und Interessen der Benachteiligten in diesen Aushandlungsprozess einzubringen. Die neuen Fragen, die in der digitalen Datengesellschaft aufgeworfen werden, sind keineswegs einfach zu beantworten und berühren in ihrer Tiefe unsere ethischen Fundamente: Sollen etwa Patientinnen und Patienten Zugang zu allen Daten haben,die bei medizinischen Untersuchungen erhoben werden – und wie verändert das daraus resultierende Wissen, beispielsweise um genetische Vorbelastungen, das künftige Leben? Eine Herausforderung nicht nur für die Seelsorge.

Digitalisierung - Verantwortung für die Diakonie

Herausgefordert wird die Diakonie auch bei der Gestaltung der neuen Arbeitswelt. Einerseits schaffen etwa die Möglichkeiten des mobilen Arbeitens neue Chancen, Familie und Beruf besser miteinander zu vereinbaren. Zudem profitieren Menschen in den Randregionen von der Möglichkeit, sich digital mit den Metropolen zu verbinden – wenn denn die Netzinfrastruktur hinreichend ausgebaut ist.

Zugleich beobachten wir aber, dass es die neuen digitalen Eliten immer stärker in die Großstädte zieht. Diese Gewinner des wirtschaftlichen Fortschritts haben ihren Anteil daran, dass die urbanen Zentren für Normalverdiener kaum noch bezahlbar sind.

Die Folge: Verdrängung aus angestammten Wohnquartieren, längere Pendlerstrecken und Wegzeiten, weniger Teilhabe am kulturellen und gesellschaftlichen Leben. Auch Tausende von Mitarbeitenden der Diakonie sind davon betroffen, und es wird immer schwieriger, in den großen Städten Personal zu rekrutieren.

Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in der Stadt und auf dem Land birgt Spannungen, die sich zum Sprengstoff für ein demokratisches Gemeinwesen auswachsen können. Was passiert, wenn Regionen vom Fortschritt abgehängt sind oder Menschen das Gefühl haben, in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung mit ihrem eigenen Leben an den Rand gedrängt zu sein, erleben wir bereits heute und können die üblen Auswirkungen fast täglich in den Abendnachrichtensehen.

Kirche und Diakonie mit ihrem feinmaschigen „Filialnetz“ sind auch hier gefordert: Wer, wenn nicht wir, können auf dem Dorf, aber auch im Stadtquartier dazu beitragen, dass zivilgesellschaftliche Netzwerke geknüpft werden und funktionieren. Auch der Verbund der Engagierten kann sich die Digitalisierung zu Nutze machen, die Beispiele sind vielfältig: von der Fairfahrt-App, die Mitfahrgelegenheiten im ÖPNV-armen hessischen Romrod koordiniert bis hin zu Websites zu den barrierefreien sozialen und kulturellen Angeboten im Kiez (z.B.„altonavi.de“ in Hamburg-Altona) oder zur Bereitstellung des freien WLANS godspot durch die evangelische Kirche in Berlin.

Meist stellt sich heraus, dass die Partnerschaft mit anderen gesellschaftlichen Akteuren ein Erfolgsfaktor für das Gelingen neuer Aktivitäten ist. Da können wir noch viel besser werden. Zu oft drehen sich Kirche und Diakonie noch in ihrer eigenen evangelischen Filterblase. Wer aber Bündnisse schmiedet, kommt in der Regel weiter – von der politischen Gemeinde über Parteien, Gewerkschaften zu Sportvereinen, der Feuerwehr und dem örtlichen Einzelhandel.

Und was im Kleinen funktioniert, fordert die Diakonie auch im Großen heraus. Der Markt der diakonischen Dienstleistungen ist in Bewegung. Die Milliardensummen der Budgets von Kranken-, Pflege- und Rentenversicherungen wecken auch in Branchen, die bisher nicht in der Sozialwirtschaft engagiert waren, Aktivitäten. In den Bereichen Wohnen oder Mobilität sind Konzerne auf der Suche nach Partnern mit langjähriger Kompetenz und gutem Ruf, um innovative Lösungen umzusetzen. Für die etablierten Träger der Wohlfahrtspflege bieten sich damit Chancen.

Zugleich müssen wir in der Diakonie wahrnehmen, dass die Geschwindigkeit, mit der sich diese neuen Player auf den sozialen Markt hinbewegen, unsere etablierten Planungs- und Entscheidungsabläufe mancherorts an ihre Grenzen bringen. Die Digitalisierung fordert die Diakonie auch in ihren Organisationsstrukturen heraus. Die von Gremien und Sitzungen geprägte Kultur der verbandlichen Steuerung kann durch neue Wege der Kommunikation verbessert und beschleunigt werden – sei es durch Videokonferenzen, durch elektronische Abstimmungsmöglichkeiten zur raschen Meinungsbildung oder ein intelligentes Wissensmanagement.

Die Diakonie Deutschland hat als Spitzenverband das Thema Digitalisierung erkannt. Welche Chancen wir nutzen und welche Risiken wir vermeiden wollen, hängt an vielen Punkten von uns selbst ab. Und ebenso, welche Bündnisse wir eingehen wollen. Mit alten und mit neuen Partnern sind wir unterwegs in die digitale Zukunft.


Präsident Ulrich Lilie
Diakonie Deutschland
Evangelischer Bundesverband
Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung
Tel. 030 - 65211-0
praesidialbereich@remove-this.diakonie.de