Digitalisierung der Patientenbetreuung
Vorbemerkung
Nachdem die Delegierten des 121. Bundesärztetages am 10. Mai in Erfurt die Lockerung des Fernbehandlungsverbots beschlossen haben, sehen die Befürworter der medizinischen Digitalisierung Deutschland endlich auf dem richtigen Weg. In Zukunft sollen Ärztinnen und Ärzte ihre Patientinnen und Patienten auch ausschließlich über Telefon, Internet oder andere Kommunikationsmedien behandeln dürfen.
Abgelehnt wurden jedoch weitreichendere Änderungen des Gesetzes, die auch ärztliche Verordnungen für Medikamente, Überweisungen und die Erteilung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ohne persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt vorsahen. Aufgrund der Lockerung des Gesetzes können nun zwei von der Landesärztekammer Baden-Württemberg bereits genehmigte Mo-dellprojekte beginnen.
Das Münchner Unternehmen Minxli und der britische Online-Arztpraxis-Anbieter DrEd werden den Baden- Württembergischen BürgerInnen erstmals ausschließlich Online-Sprechstunden anbieten. Mit der Änderung dieser hohen juristischen Hürde wird in Deutschland die Telemedizin vorangetrieben. Die traditionell konservative Bundesärztekammer gab damit dem wachsenden Druck aus Bevölkerung, Politik und einer neuen Generation junger, motivierter Ärzte nach und öffnet sich für eine digitale Veränderung.
Was sind die Ziele der medizinischen Digitalisierung?
Um Antworten auf diese Fragen zu finden, hat die Bundesärztekammer auf dem Ärztetag in Erfurt die Einrichtung einer Projektgruppe „Ethisches Leitbild für die digitalisierte Medizin“ beschlossen. Die Projektgruppe soll u.a. untersuchen, inwieweit ärztliches Handeln durch die Digitalisierung beeinflusst wird und progressiv zukünftige Handlungsfelder erarbeiten. Dabei stellt der Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery, klar, dass auch zukünftig der persönliche Arzt-Patienten-Kontakt der Goldstandard für medizinische Behandlung sein wird.
Warum ist die Digitalisierung in der Medizin so wichtig?
Als Notfallsanitäter im suburbanen und ländlichen Brandenburg sind meine Kolleginnen, Kollegen und ich regelmäßig mit den Versorgungsengpässen auf dem Land konfrontiert. Überfüllte Notaufnahmen, lange Wartezeiten oder fehlende Verfügbarkeiten von Fachärztinnen und Fachärzten sind medizinische Realität außerhalb deutscher Metropolregionen, was insbesondere aufgrund des demografischen Wandels und der eingeschränkten Mobilität in ländlichen Regionen zu mangelhafter medizinischer Versorgung führt. An diesen Stellen kann Telemedizin, die ärztliche Beratung über Kommunikationsmedien, ergänzend Abhilfe schaffen und langfristig höhere Gesundheitsstandards etablieren.
Als europaweites best-practice Vorbild gilt hierfür die Schweiz. Über ein Programm namens Managed Care stehen rund um die Uhr Haus- und Fachärzte digital zur Verfügung, um PatientInnen kurzfristig zu beraten. Durch viele dieser niedrigschwelligen Konsultationen entfallen Besuche beim Arzt oder in der Notaufnahme und die Ressourcen werden für dringliche Fälle geschont. Als Incentivierung zahlen PatientInnen in der Schweiz, die sich primär telemedizinisch haben beraten lassen, niedrigere Versicherungsprämien. Mit dem Beschluss des deutschen Ärztetages sind nun auch in Deutschland telemedizinische Behandlungen im Alltag realistischer geworden und die Versorgungslandschaft wird sich dadurch zunehmend verändern.
Bereits heute wird geprüft, ob die notfallmedizinische Versorgung in bestimmten Landkreisen von der Unterstützung durch telemedizinische Systeme profitieren kann. Pilotprojekte wie im bayerischen Straubing, wo dem Rettungsdienstpersonal im Bedarfsfall durch Videoübertragung ein/e Telenotarzt/ärztin zugeschaltet werden kann, können ein langes therapiefreies Intervall signifikant verkürzen und so die Heilungsperspektive von PatientInnen verbessern. Hierbei nimmt die neue Berufsausbildung zum/zur NotfallsanitäterIn eine wichtige Rolle ein, da diese, nach telemedizinischer Befundung, die Therapie vor Ort eigenständig einleiten und durchführen müssen. Bei dieser Kombination aus Ferndiagnose und Behandlung vor Ort ist medizinisch gut geschultes Personal am Einsatzort von großer Bedeutung. Meine Berufserfahrung in städtischen Gebieten Hamburgs und Berlins sowie in ländlichen Landkreisen hat mir gezeigt, dass Versorgungsengpässe behoben und die Qualität erhöht werden muss. Erfahrungen aus Pilotprojekten der Telemedizin haben unter Beweis gestellt, dass diese digitale Behandlungsform insbesondere auf dem Land einige der besonders dringenden Probleme adressieren und beheben könnte.
Während in Städten wie Hamburg und Berlin Notarzteinsatzfahrzeuge in ausreichendem Maße vorhanden sind und ein/e Notarzt/-ärztin in der Regel schnell am Einsatzort ist, benötigt ein/e Notarzt/-ärztin auf dem Land eine längere Anfahrtszeit und es ist durchaus keine Seltenheit, dass kurzfristig keine Notärzte/-innen verfügbar sind. In diesen strukturell schwachen Gebieten wäre es sinnvoll über Telenotärzte/-ärztinnen nachzudenken, um auch auf dem Land eine hochwertige Versorgung sicherzustellen.
Auch in andere Bereiche der Medizin lässt sich der Nutzen der Telemedizin übertragen. Um dem ärztlichen Ressourcenmangel entgegenzuwirken, könnten Pflegekräfte in Krankenhäusern oder Pflegeheimen weitergebildet werden, sodass diese nach telemedizinischer Konsultation eines Arztes/ einer Ärztin, therapeutische Maßnahmen durchführen. Auch diese Praxis wird in der Schweiz bereits erprobt. Dadurch werden zum einen die negativen Konsequenzen des fortbestehenden Ärztemangels abgeschwächt und zum anderen bergen die erweiterten Handlungskompetenzen des medizinischen Pflegepersonals Chancen für eine gesteigerte gesellschaftliche Wertschätzung der nicht-ärztlichen Berufsbilder.
Von einer Übertragung von Kompetenzen und einer Verringerung der Bürokratie durch die elektronische Patientenakte bis hin zu praktischen Verbesserungen in bestimmten Fachbereichen, bietet die Digitalisierung viele Möglichkeiten. Zu den konkreten Fachbereichen zählen neben der genannten notärztlichen Hilfe insbesondere die hausärztliche und die psychiatrische Konsultation. Gerade wenn Patientinnen und Patienten dem Behandelnden bereits bekannt sind und sich ein vertrautes Patient-Arzt-Verhältnis etabliert hat, können therapeutische Gespräche auch ortsunabhängig geführt werden, um Therapien zu begleiten und den Weg des Gesundwerdens gemeinsam mit dem Patienten/ der Patientin zu beschreiten. Hierbei profitiert die Ärztin oder der Arzt von einer engeren Überwachung des Gesundheitszustandes und kann im Bedarfsfall zeitnah intervenieren; ebenso verspürt die Patientin bzw. der Patient, dass die medizinische Hilfe nicht an der Türschwelle der Praxis endet sondern die Ärztin oder der Arzt ihren bzw. seinen Heilungsprozess persönlich begleitet.
Strukturell bietet die Digitalisierung in der Medizin auch endlich die Chance, die Zusammenarbeit der verschiedenen Fachbereiche durch eine gebündelte Kommunikation in der elektronischen Patientenakte zu verbessern. Eine transparente Patientenakte ist im Idealfall dann auch in verständlicher Sprache für Patientinnen und Patienten zugänglich und diese verstehen in der Folge, warum welcher Ärztin oder Arzt zu welcher Therapie greift. Dadurch wird nicht nur die Kommunikation zwischen den Ärztinnen und Ärzten verbessert, sondern auch das Verständnis der Patientin bzw. des Patienten für seine eigene Krankheit und Therapie positiv beeinflusst. Ich bin davon überzeugt, dass Patientinnen und Patienten, die ihre Krankheit und Therapie verstehen, durch bessere Einbindung und Eigeninitiative, auf ihre eigene Versorgung positiven Einfluss nehmen können.
Kann die Suchthilfe von der Digitalisierung profitieren?
An der Suchttherapie sind in der Regel viele verschiedene Parteien des Gesundheits- und Sozialwesens beteiligt. Die Digitalisierung bietet eine große Chance, um die Ressourcen effizienter zu nutzen und bürokratische Hürden abzubauen. Eine bessere Vernetzung zwischen Ärztinnen/Ärzten, Psychologinnen/Psychologen, Sozialarbeiterinnen/Sozialarbeitern und Sozialpädagoginnen/ Sozialpädagogen, die häufig allesamt Einfluss auf suchtkranke Patientinnen und Patienten nehmen, bietet einen großen Vorteil bei der Behandlung.
Rückfälle und eine Vielzahl mit der Suchterkrankung verbundenen psychischen Erkrankungen machen Suchterkrankungen zu einem Gebiet, auf dem zeitnah die richtige Hilfe gefunden werden muss. Der Gedanke, dass sich die Patientinnen und Patienten über Videotelefonie unkompliziert mit Behandelnden in Verbindung setzen können und alle Helfenden durch eine enge digitale Zusammenarbeit dieselbe Sprache sprechen, verkürzt den Weg zur barrierearmen, unkomplizierten Unterstützung.
Durch eine niedrige Zugangsschwelle bei der Kontaktaufnahme mit beteiligten Kräften der Suchthilfe, können Klientinnen und Klienten von einer intensiveren Betreuung profitieren und in Krisensituationen schnellere Hilfe erfahren.
Welche Probleme können auftreten und wo liegen die Grenzen der Telemedizin?
Aktuell gibt es insbesondere in der Ärzteschaft noch große Vorbehalte gegenüber der Telemedizin und es gilt, diese Vorbehalte sachlich zu diskutieren und klare Grenzen für die Fernbehandlung abzustecken. Gerade hierfür sind konkrete Zahlen für eine evidenzbasierte Telemedizin fundamental, um kritische Stimmen zu überzeugen und eine reale Verbesserung der Versorgung zu erzielen. Es könnte zum Nachteil werden, dass letztlich viele Menschen nicht mehr bei der Ärztin / dem Arzt oder der Therapeutin / dem Therapeuten erscheinen und sich überwiegend auf telemedizinische Dienste verlassen. Bei diesem Punkt muss besonders darauf geachtet werden, bei welchen Symptomen ein persönliches Gespräch empfohlen wird. Es muss klar definiert werden, ab wann keine telemedizinische Beratung mehr durchgeführt werden darf und die Klientin/ der Klient sofort an eine Beratungsstelle, eine Praxis bzw. an die Notaufnahme eines Krankenhauses überwiesen werden muss.
Problematisch ist ebenfalls die niedrigere Hürde der Eigentherapie von Patientinnen und Patienten. Durch neue Informationsquellen steigt die Bereitschaft zur Selbstmedikation in der Gesellschaft. Dieses Phänomen könnte durch flächendeckende, telemedizinische Dienste noch verstärkt werden, weil Patientinnen/Patienten noch seltener persönlich bei einer Ärztin/ einem Arzt erscheinen.
Auch gibt es viele Erkrankungen, bei denen eine persönliche ärztliche Untersuchung sowie die Anwendung von technischen und labortechnischen Verfahren unersetzlich sind. Darüber hinaus gibt es berechtigte Stimmen in der Medizin, die ebenfalls kritisieren, dass Ärztinnen und Ärzte bei der Untersuchung und Anamnese die Patientinnen und Patienten sowohl körperlich, seelisch als auch sozial-kulturell verstehen müssen, um Menschen ganzheitlich behandeln zu können.
Dieser Ansatz einer personalen Medizin entfällt bei der Konsultation einer Ärztin oder eines Arztes über die Videotelefonie. Ich teile diese Einschätzung und halte es für wichtig, dass die Telemedizin in der Gesellschaft nur als ergänzendes Instrument gesehen wird und diese nur unter klaren Rahmenbedingungen genutzt werden darf.
Obwohl es in Deutschland bisher nur wenige Leuchtturmprojekte im Bereich der Telemedizin gibt, ist dieser junge Bereich der Medizin auf dem Vormarsch. Ich erhoffe mir von den Entscheidungsträgern, dass Deutschland einen strukturierten Einstieg in die Benutzung von telemedizinischen Diensten schafft, um genannte Risiken zu vermindern. Darüber hinaus ist es wichtig, so früh wie möglich kontrolliert Projekte zu fördern und deren Stärken zu erkennen, damit wir für die versorgungstechnischen Probleme der Zukunft gewappnet sind und unser Gesundheitssystem zeitgemäß modernisieren. Als Grundlage muss dafür die Gebührenverordnung der Krankenkassen um telemedizinische Dienste ergänzt werden, damit ein angemessenes Entlohnungssystem die Ärzteschaft motiviert Pionierarbeit zu leisten und diesen neuen Bereich der Medizin weiterzuentwickeln.
Ich betrachte die Digitalisierung, die von der elektronischen Patientenakte über die Telemedizin bis hin zur Delegation von ärztlichen Maßnahmen an medizinisches Fachpersonal geht, als reelle Chance grundlegende Probleme im Gesundheitswesen zu verbessern, um den BürgerInnen eine adäquatere Versorgung bieten zu können. Aus diesem Grund halte ich es für elementar, dass die Vorteile der digitalen Möglichkeiten erkannt und sinnvoll gefördert werden.

Ole Petersen
Notfallsanitäter Rettungsdienst Teltow-Fläming GmbH
Am Nuthefließ 2
14943 Luckenwalde
o.petersen(at)aol.com