Digitalisierung in der Suchtarbeit
Vorbemerkung
Konnten Sie sich vor 20 Jahren vorstellen, dass der größte Einzelhändler der Welt ein online-Versandhändler sein wird? Oder dass knapp die Hälfte aller Urlaubsreisen bereits am heimischen PC gebucht wird? Vermutlich nicht. Und können Sie sich heute vorstellen, dass diese digitale Revolution überall um sich greift, nur die Suchtarbeit davon ausgespart bleibt? Ich vermute, dass viele Leser dies hoffen. Für sehr realistisch halte ich diese Hoffnungen allerdings nicht. Und wenn die Digitalisierung in einem Bereich Einzug hält, kommt sie mit Macht. Umwälzungen finden dann nicht mehr im Bereich von Jahrzehnten, sondern im Bereich weniger Jahre statt. Höchste Zeit also, sich jetzt mit dem Thema Digitalisierung in der Suchthilfe zu beschäftigen, wenn wir nicht von der Entwicklung überrollt werden wollen.
Digitalisierung bedeutet ganz allgemein die Umwandlung analoger Daten in digitale Formate. In diesem weit gefassten Sinn haben wir in der Suchtarbeit schon vieles digitalisiert: wir verwenden Software bei der Verwaltung unserer Patienten und bei der Dokumentation oder beim Erstellen von Entlassungsberichten. Wir haben Homepages und kommunizieren untereinander per e-mail. Auch diese erste Stufe der Digitalisierung war nicht unproblematisch und führte zu Ängsten unter den Mitarbeitenden. Nicht wenige – gerade die älteren – Mitarbeitenden bekamen Probleme mit diesen Neuerungen. Heute dürften diese Probleme weitgehend ausgestanden sein. Kaum noch ein Mitarbeitender fällt aus dem Arbeitsprozess heraus, weil er nicht in der Lage ist, einen Computer zumindest in den Basisfunktionen zu bedienen.
Die Phase der Digitalisierung, die jetzt begonnen hat, erzeugt wiederum viele Ängste. Ängste vor Jobverlust, Ängste davor, „abgehängt zu werden“ und Ängste davor, von anderen Institutionen, die schneller und innovativer sind, überholt zu werden. Jetzt greift die Digitalisierung nämlich nach dem „Kerngeschäft“ der Suchtarbeit: der Computer und insbesondere das Smartphone hat die Bereiche Beratung und Therapie erreicht.
Einsatzgebiete digitaler Medien:
Prävention
Im Bereich der Primärprävention (z. B. Aufklärung über Risiken des Drogen- oder Alkoholkonsums) und der Sekundärprävention (z.B. Erkennen und Verändern eines bereits erhöhten Alkoholkonsums) werden online-Portale bereits heute intensiv eingesetzt, zum Beispiel von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Durch geschickte Positionierung der entsprechenden Seiten in Suchmaschinen oder in Werbeeinblendungen werden mit geringem Aufwand sehr viele Menschen erreicht. Die Nutzung erfolgt in der Regel anonym und die Portale sind rund um die Uhr erreichbar. Gerade bei jüngeren Menschen ist die Schaltung von Präventionsangeboten übers Smartphone ein effektiver Weg und kann bereits heute einen Teil der Präventionsarbeit von z.B. Suchtberatungs- stellen übernehmen.
Selbsthilfeprogramme
Die Verbreitung internetbasierter Selbsthilfeprogramme für Menschen mit psychischen Problemen nimmt zu. Insbesondere für Menschen mit depressiven Symptomen oder für stressgeplagte Menschen werden bereits eine ganze Reihe dieser Selbsthilfeprogramme angeboten.
Aber auch im Bereich des Risikokonsums oder abhängigen Konsums von Suchtstoffen gibt es online Angebote (z.B. www.selbsthilfealkohol.de). Die Wirksamkeit dieser Programme z.B. im Bereich depressiver Symptome ist gut belegt. Die Schwellen sind niedrig. Anbieter in der Suchthilfe erhoffen sich, mit ihren Programmen neue Personengruppen zu erreichen, die den direkten Kontakt zu den Institutionen des Suchthilfesystems normalerweise meiden. Allerdings können Betroffene durch solche Pro- gramme auch davon abgehalten werden, sich professio- nelle Hilfe zu suchen. Ein sinnvolles Einsatzgebiet dieser Selbsthilfeprogramme kann u.a. in der Überbrückung von Wartezeiten auf einen Beratungstermin oder auf eine ambulante oder stationäre Suchttherapie bestehen.
Internetbasierte Ergänzung einer face-to-face Beratung / Psychotherapie
Trotz der datenschutzrechtlichen Bedenken werden auch heute schon soziale Medien häufig als Kommunikationskanal zwischen Therapeutin / Berater und Patient / Klientin genutzt, meist jedoch nicht im Sinn einer Therapieunterstützung.
Bei Durchführung einer ambulanten oder stationären Psychotherapie ist die Kontaktzeit mit dem Psychotherapeuten zwangsläufig immer zeitlich begrenzt. Den weit überwiegenden Teil der Wochenzeit befindet sich eine Patientin bzw. ein Patient daher nicht in einem therapeutischen Prozess, sofern sie / er nicht in Eigenregie neue Verhaltensmuster erprobt. In dieser Lücke können internetbasierte Angebote eine wertvolle Ergänzung eines Beratungs- oder Therapieprozesses darstellen, indem die in der Sitzung angesprochenen Themen kontinuierlich geübt werden können. Die oben angesprochenen Selbsthilfeprogramme können hier eingesetzt werden. Die in unserem Haus entwickelte Therapie-App „MeinSalus“ zielt ebenfalls in diese Richtung. Die App kann stationäre Patienten im Klinikalltag organisatorisch unterstützen, zum Beispiel durch Bereitstellung der wesentlichen Informationen rund um die Klinik inclusive persönlichem Therapie- plan, Erinnerungsfunktionen oder der Möglichkeit, individuelle Push-Nachrichten an Patienten zu versenden. Darüber hinaus soll die App Patienten in ihrem Therapieprozess unterstützen durch Verwaltung der Ziele und Aufgaben des Patienten, Führung eines Stimmungsprotokolls und Erstellung eines Notfallplanes. Außerdem bietet die App Entspannungsübungen, einen Abstinenzzähler und ein Trigger Training für alkoholassoziierte Reize an. Diese Funktionen der App können in der freien Version kostenlos von jedermann genutzt werden.
Eine weitere Möglichkeit der internetbasierten Ergänzung einer Psychotherapie stellen online Nachsorgeprogramme z.B. nach stationärer Entwöhnungsbehandlung dar. Untersuchungen belegen auch an dieser Stelle gute Ergebnisse.
Online-Therapie
Im Mai 2018 beschloss der Deutsche Ärztetag, dass Ärzte ihre Patienten künftig auch ohne vorherigen persönlichen Kontakt ausschließlich per Telefon, SMS, E-Mail oder Online-Chat behandeln dürfen. Eine solch ausschließliche Fernbehandlung war bislang in Deutschland nicht erlaubt. Noch ist diese Erlaubnis dadurch eingeschränkt, dass der Einsatz „…medizinisch vertretbar ist und die erforderliche ärztliche Sorgfalt bei Diagnostik, Beratung, Therapie und Dokumentation gewährleistet wird“.
Welche Auswirkungen dieser Beschluss langfristig im Bereich der Psychotherapie haben wird, ist meines Erachtens noch nicht abzusehen. Ich vermute jedoch, dass die Auswirkungen gravierend sein werden. Prinzipiell wird es dadurch möglich, dass künftig jede Ärztin / jeder Therapeut von überall in der Welt Menschen per Internet behandeln kann. Wartezeiten werden sich dadurch erübrigen. Kein Patient ist mehr auf die Öffnungszeiten einer Praxis oder einer Beratungsstelle angewiesen. Eingangsschwellen werden damit weitgehend abgebaut.
Ein Wechsel der Therapeutin / des Therapeuten, z.B. wenn die therapeutischen Interventionen dem Patienten „nicht gefallen“, wird dadurch deutlich erleichtert. Diese Unverbindlichkeit wiederum wird Einfluss auf die Gestaltung der therapeutischen „Fern“-Beziehung nehmen.
Der Skandal um Cambridge Analytica und den manipulierten US-amerikanischen Wahlkampf hat gezeigt, wie gut Maschinen bereits in der Lage sind, Menschen diagnostisch einzuordnen und zu manipulieren. Im Jahr 2015 belegte eine Studie, dass Computer bereits 300 likes auf facebook ausreichen, um einen Menschen in dem Fünf-Faktoren-Modell („big five“) der Persönlichkeitspsychologie genauso sicher einzuordnen wie der jeweilige Lebensgefährte.
Der Einsatz „lernender software“, wird dazu führen, dass Maschinen aus Gestik, Sprachmodulation, Körperhaltung usw. Rückschlüsse ziehen können, um Aussagen über Motivationslage, Beziehungsbereitschaft, Änderungsbereitschaft usw. treffen zu können. Von diesem Punkt an ist der Weg hin zu einer voll automatisierten Psychotherapie nicht mehr weit!
Die Risiken neben den Chancen
Neben den oben beschriebenen Chancen birgt der Einsatz digitaler Medien in der Suchtarbeit natürlich auch Risiken. Da sind zum einen die Probleme des Datenschutzes. Alle Daten, die im Internet kursieren, sind – auch bei guter Verschlüsselung – prinzipiell dem Angriff von Datenhackern oder einem Missbrauch der Daten ausgesetzt. Gerade bei den sensiblen persönlichen Daten, die im Verlauf einer Psychotherapie anfallen, ist dies von höchster Priorität.
Es gibt keine Qualitätskriterien für die angebotenen Programme. Jeder Anbieter, egal welcher Qualifikation, kann Selbsthilfeprogramme oder psychoedukative Programme ins Netz stellen. Für den Anwender ist es sehr schwer, die Qualität solcher Programme einzuschätzen.
Die Nutzung eines Smartphones an sich birgt schon Risiken. Gerade bei Menschen, die zu suchtartigem Verhalten neigen, haben Smartphones mit ihren intermittierenden Verstärkern ein hohes Verführungs- und damit auch Suchtpotenzial. Die ständige Erreichbarkeit kann zu Stresssymptomen führen. Die vermeintliche ständige Verbundenheit mit anderen im Netz kann zum Rückzug von realen sozialen Beziehungen und damit zu sozialer Isolation führen.
Und schließlich: In vielen Studien wurde die entscheidende Bedeutung der therapeutischen Beziehung für den Erfolg eines Therapieprozesses belegt. Umso erstaunlicher sind die positiven Ergebnisse von online Therapien, bei denen diese therapeutische Beziehung nicht oder nur in Ansätzen besteht. Möglicherweise spielt hier die relative Anonymität des Therapieprozesses auch eine Rolle (geringere Eingangsschwellen, weniger Schamgefühle…). Hier sind sicherlich weitere Untersuchungen notwendig, um die Auswirkungen noch besser zu erforschen.
Ich persönlich bin der Meinung, dass sich der gerade angefahrene Zug „Digitalisierung in der Suchtarbeit“ trotz der beschriebenen Risiken nicht mehr aufhalten lässt. Unsere Aufgabe sollte es sein, die Fahrt dieses Zuges mitzugestalten, unser Expertenwissen einzubringen und die Risiken zu minimieren. Tun wir das nicht, werden andere Anbieter auch ohne vorhandenes Fachwissen die Digitalisierung der Suchtarbeit in die Hand nehmen.

Dr. Dietmar Kramer
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
Facharzt für Neurologie
Leitender Arzt salus klinik Friedrichsdorf
Landgrafenplatz 1
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