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Von Prof. Dr. Marc Weinhardt

Digitalisierung und Lebenslanges Lernen

Vier Aspekte von Digitalisierung in der Sozialen Arbeit in Bezug auf Lernen und Bildung

Digitalisierung ist ein stark strapaziertes Buzz-Word. Sozialpolitik, Praxis und Wissenschaft befeuern sich gegenseitig zu einem ausufernden und kaum mehr inhaltlich präzise fassbaren Diskursfeld, insbesondere wenn Lern- und Bildungsprozesse mitgemeint sind. Während im engen Sinne Digitalisierung lediglich die Erfassung analoger Daten wie Bilder, Geräusche, Temperatur etc. in eine für Computer lesbare Form meint, zielt der aktuelle Digitalisierungsbegriff auf etwas weitaus umfassenderes: Nämlich jene kulturellen Veränderungen, die mit der starken und alltäglichen Verbreitung sehr unterschiedlicher Geräte und Software verbunden sind. Geräte, z.B. Smart- phones, Tablets oder andere tragbare oder fest installierte Computer und die zugehörigen Programme sind dabei aber nur die Oberfläche dieser kulturellen Transformation.

Jenseits dieser Oberflächenstruktur finden jene tiefgreifenden und gar nicht vollständig absehbaren Veränderungen statt, die einen weiteren und vielleicht wesentlicheren Teil der kulturellen Transformation in der Digitalisierung ausmachen.

Es geht dann beispielsweise nicht mehr nur darum, dass bezogen auf das Studium von Fachkräften oder in Hilfeprozessen aus Sicht der Adressatinnen und Adressaten in der Suchtberatung das Internet per Tablet und Smartphone genutzt wird, sondern auch: Was bedeutet das für unsere Begriffe von Bildung, Beratung, Hilfe und Bewältigung? Passen diese Transformationen zu unseren „klassischen“ Bildungs- und Bewältigungskonzepten, die mehr oder weniger unausgesprochen davon ausgehen, dass sich wesentliche Dinge in persönlichen Begegnungen und räumlichen und zeitlichen Ordnungen abspielen? Wie verändern sich dabei unsere Ideen über Institutionen und die mit ihnen verbundenen Prozesse?

Der Soziologe Manuel Castells hat all diese Veränderungen in seiner Trilogie zum Aufstieg der Netzwerkgesellschaft (Castells und Kößler 2002, 2003, 2004) früh vorausgesehen, aber erst in der letzten Zeit befasst sich Soziale Arbeit intensiver mit diesen Fragen (Kutscher 2018; Roeske 2018; Stadler 2018; Welskop-Deffaa2018).

Eng verknüpft mit Fragen der Digitalisierung sind immer Fragen von Lernen und Bildung, die vor allem im digitalen Zeitalter konsequent als Lebenslanges Lernen gedacht werden müssen, gerade weil sich traditionelle Formen und Inhalte wandeln oder auflösen und ergänzt oder ersetzt werden. Begreift man Soziale Arbeit dabei als Koproduktion, so sind mindestens vier Aspekte zu unterscheiden, die in der Tabelle wie folgt dargestellt sind:

  Formveränderung von Lernen und Bildung Inhaltsveränderung von Lernen und Bildung
Fachkräfte    
Adressatinnen und Adressaten    

Tabelle 1: Vier Aspekte von Digitalisierung und Lebenslangem Lernen

Fachkräfte und Adressat*innen sind unterschiedlich betroffen

Soziale Arbeit als Koproduktion zwischen Fachkräften und Adressatinnen sowie Adressaten unterstellt, dass beide Rollen in gemeinsamer, aber auch unterschiedlicher Weise von Prozessen der Digitalisierung betroffen sind. Betrachtet man zunächst die Formen von Lernen und Bildung, so wird deutlich, dass beispielsweise für Fachkräfte schon heute das grundlegende Studium komplett digital absolviert werden kann, in letzter Zeit sogar inklusive zuhause absolvierter Prüfungen. Dies setzt sich fort in der Weiter- und Fortbildung, die diesem Trend zunehmend folgt. Eine zunehmende Beschleunigung im Bereithalten und Absolvieren von Lernthemen lässt sich weiterhin in Form der Microdegrees beobachten – kurze, thematisch eng umgrenzte Bildungsangebote, die bei Bedarf zu größeren Zertifikaten kumuliert werden können. Diese aufgrund ihrer digitalen Darreichungsform leicht erreichbaren und flexibel nutzbaren Lernangebote überkreuzen sich dabei mit der zunehmenden europäischen Harmonisierung von Bildungsabschlüssen, wie sie im EQR bzw. DQR gefordert werden und dabei auch die bisher feste Grenze zwischen formaler und non-formaler Bildung partiell auflösen. Für Adressatinnen und Adressaten kann zunächst ebenso das Erlangen formaler Bildung durch die Digitalisierung erleichtert werden, wesentlich bedeutsamer wird aber bezogen auf die Adressaten- und Adressatinnenrolle sein, dass sozialpädagogische Hilfe in ihrer lebensweltlichen Kreuzung von Bildung und Bewältigung (Böhnisch 2017; Grunwald und Thiersch 2018) viele non-formale und informale Bildungselemente enthält, die zunehmend in digitalen Formen erreichbar sind - z.B. in Form von Onlineberatung, virtuellen Selbsthilfegruppen oder komplett computergesteuerten Angeboten etc.

Digitalisierung bedeutet stark veränderte Inhalte

Noch vor wenigen Jahren bedeutete die Inhaltsseite von Digitalisierung für Fachkräfte und Adressatinnen und Adressaten im Wesentlichen das Vorhalten basaler Medienkompetenz, z.B. um an einer E-Mail-Beratung teilnehmen zu können. Obwohl bis heute diese Voraussetzungen immer noch nicht für alle Erwachsenen als erfüllt gelten, (Häußler 2017) sind weitere und komplexere Anforderungen hinzugekommen.

Bezogen auf die Fachkräfte zeigen sich hier gemessen an den aktuellen Curricula gravierende Lücken zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Im Kontext von Big Data, also dem mustersuchenden Auswerten großer und auch unstrukturierter Datenmengen, ermöglichen Predictive und Affective Computing als eine Form der Anwendung von Künstlicher Intelligenz Vorhersagen und Analysen in bisher nicht bekannten Formen, z.B. in der Gefährdungsabschätzung bei Kindeswohl.

Auch für die Behandlung unterschiedlicher psychischer Störungen liegen digitale Angebote vor, in denen menschliche Behandler teilweise oder vollkommen ersetzt sind. Gleichzeitig werden die sich in diesem Zusammenhang ergebenden Fragen bisher nicht systematisch in Studium und Weiterbildung behandelt. Digitalisierung ernst genommen würde bedeuten, dass sich Fachkräfte hier lebenslang mit diesen Themen auseinandersetzen, gerade weil die Innovationszyklen digitaler Dienste sehr kurz sind.

Auch aus Sicht der Adressatinnen und Adressaten ist bei dieser lediglich kursorischen Aufzählung sofort ersichtlich, dass die Aneignung und Nutzung aktueller und zukünftiger digitaler Dienste mehr denn je auf aufgeklärte und mündige Nutzerinnen und Nutzer setzen muss. Im Gegenzug sollten Dienste für Menschen in Not- und Krisensituationen aus ethischen Gründen nicht nur das derzeit positiv machbare anbieten, sondern gleichzeitig auch die Risiken ihrer Nutzung z.B. im Datenschutz, minimieren müssen.

Abschließende Gedanken

Digitalisierung verweist zwingend auf die Befassung mit Aspekten des Lebenslangen Lernens. Nimmt man dies ernst, so sind aus Sicht der Professionalisierung von Fachkräften die notwendigen Schritte erst noch zu tun und die Dringlichkeit der Sache von den zugehörigen Disziplinen in der Ausbildung in den Blick zu nehmen. Nur so ist nämlich gewährleistet, dass digitale Dienste in der Sozialen Arbeit auch durch diese verantwortet werden, anstatt einer an vielen Orten bereits entstehenden Klasse der Digitalisierungsmanager überantwortet zu werden.

Nicht vorausgesetzt werden kann, dass eventuelle Formen automatisch zu Inhalten werden: Wer ab und an ein Onlineseminar an der Hochschule absolviert, ist lange noch nicht kompetent, Onlineberatungsdienste zu konzipieren oder Chancen und Grenzen im Einsatz von Robotik und künstlicher Intelligenz für die Soziale Arbeit abzuschätzen.


Literatur:

  1. Böhnisch, Lothar (2017): Sozialpädagogik der Lebensalter. Eine Einführung. Weinheim: Beltz.
  2. Grunwald, Klaus; Thiersch, Hans (2018): Lebensweltorientierung. In: Soziale Arbeit: Eine elementare Einführung. Wiesbaden: Springer, S. 303–315.
  3. Häußler, Helena (2017): Wie steht es um die Informationskompetenz von Erwachsenen? Eine Auswertung der PIAAC-Studie. O-Bib. Das offene Bibliotheksjour- nal. (4) 2, S. 72-82.
  4. Kutscher, Nadia (2018): Digital und professionell!? Implikationen der Digitalisierung für fachlicheLogiken in der Sozialen Arbeit. In: Sozial extra : Zeitschrift für soziale Arbeit 42 (3), S. 6–7.
  5. Roeske, Adrian (2018): Digitalisierung Sozialer Arbeit. Widersprüche im fachlichen Handeln. In: Sozial extra: Zeitschrift für soziale Arbeit 42 (3), S. 16–20.
  6. Stadler, Wolfgang (Hg.) (2018): Mehr als Algorithmen. Digitalisierung in Gesellschaft und Sozialer Arbeit. Weinheim: Beltz.
  7. Welskop-Deffaa, Eva Maria (2018): Digitalisierung in der Sozialen Arbeit. Freiburg: Lambertus.

Prof. Dr. Marc Weinhardt
Evangelische Hochschule Darmstadt
Fachbereich W/School of Professional Studies

Zweifalltorweg 12
64293 Darmstadt
Tel. 06151-8798-51
Marc.Weinhardt@remove-this.eh-darmstadt.de