Kollegiale Beratung Online – ohne persönliche Treffen oder Expertinnen bzw. Experten gut beraten?
Als Potentiale von Online-Beratung gelten die zeitlich und örtlich flexible Verfügbarkeit der Beratungsangebote, ein niederschwelliger Zugang und die Möglichkeit, als Ratsuchende anonym zu bleiben. Gleichzeitig ist weiterhin eine große Skepsis in Bezug auf die Nutzung digitaler Technologien in Beratungssettings verbreitet. Diese Diskussion trifft ebenfalls auf das besondere Beratungsformat der Kollegialen Beratung zu, einer Peer-Beratung, die ohne Expertinnen bzw. Experten erfolgt und in ihrer digitalisierten Variante auch ohne Präsenztreffen vor Ort auskommt.
Online-Beratung - was sagt die Forschung?
Bei großer Formenvielfalt insgesamt überwiegt bei der Online-Beratung schriftliche und zeitversetzte computervermittelte Kommunikation. Die Forschung zu dieser Kommunikation hat für die Beratung interessante Ergebnisse hervorgebracht:
Zunächst hat man die „Kanalreduktion“ im Kommunikationsprozess, also den Wegfall von „sozialen Hinweisreizen“ (Mimik, Gestik, Tonfall, Gesichtsausdruck, Erscheinungsbild, Alter der Beteiligten etc.) im textbasierten Kommunikationsprozess untersucht. Im Kontrast zu gängigen Annahmen kann die Kanalreduktion unter bestimmten Bedingungen ausgeglichen werden und verbessert sogar häufig die Kommunikationssituation: Die Kommunikation kann hierarchiefreier und gleichberechtigter ablaufen, und die Konzentration auf die Inhalte steigt (vgl. Walther und Burgoon 1992).
Die Medienpsychologin Nicole Döring (2002) hat die internetbasierte Kommunikation sogar als „persönlicher“ bezeichnet als die Kommunikation zweier Personen vor Ort. Döring argumentiert, dass die räumlich getrennte Situation Bewertungsangst reduziere, die Aufmerksamkeit auf die Inhalte und eigene Gefühle steigere und die Möglichkeit das Geschriebene noch vor dem Versenden zu editieren, den eigenen persönlichen Ausdruck steigere.
Auch Studien jüngeren Datums kommen zu dem Ergebnis, dass bei internetbasierter Textkommunikation die Bereitschaft, sich gegenüber dem Gesprächspartner zu öffnen, über sich und seine Gefühle zu sprechen, zunimmt (Jiang et al 2013, Meshi et al. 2015).
Kollegiale Beratung online- ein besonderes Beratungsformat digitalisiert
Die Methode der „Kollegialen Beratung“ ist im sozialen Sektor weit verbreitet. Grundidee ist, dass auf externe Beratungskompetenz zugunsten der kollektiven Ressourcen einer Gruppe von Gleichgestellten und einem strukturierten Handlungsablauf verzichtet wird. Im „Heilsbronner Modell“ (Spangler und Schindler 2016) sind dies zehn klar voneinander abgegrenzte Beratungsschritte, die die Beteiligten in ihren jeweiligen Rollen als Fallgeberinnen bzw. Fallgeber, Moderatorinnen bzw. Moderatoren oder Beratende durchlaufen.
Zeitgleich mit der Entstehung anderer sozialer Medien wie z.B. Facebook wurde ab 2005 an einer digitalisierten Variante der Kollegialen Beratung gearbeitet. Der sprachbasierte Ansatz der Kollegialen Beratung schien für eine Online-Implementierung gut geeignet; die Idee Beratungsprozesse in Online-Räumen durchzuführen und damit zeitlich und örtlich zu flexibilisieren, entsprach darüber hinaus dem gesellschaftlichen Trend, Online- Räume als weitere soziale Räume, gerade auch für die Zusammenarbeit mit Peers, zu nutzen.
Im Gegensatz zu kommerziellen sozialen Medien war von Beginn an entscheidend, diese Online Räume als geschützte Räume datenschutzkonform anzubieten. Ergebnis dieser Entwicklungen ist das „Online-Tagungs- & Beratungshaus“ auf der Internetplattform „kokom.net“ (https://www.kokom.net), das seither Beratungsprozesse (und andere Formen der Online-Kooperationen) in geschützten Online-Räume auch über räumliche und zeitliche Distanz ermöglicht. Die Beratungsprozesse erfolgen dabei in den gewohnten zehn Schritten des Heilsbronner Modells in zeitversetzter, schriftlicher Kommunikation.
Kollegiale Beratung Online baut dabei auf den oben skizzierten Forschungsergebnissen zur computervermittelten Textkommunikation auf. In der Entstehungszeit wäre die Ergänzung durch Audio- oder Videokonferenzen vom Stand der technologischen Entwicklung noch nicht möglich gewesen, aber auch zum heutigen Zeitpunkt wird die Fokussierung auf schriftliche Kommunikationsprozesse beibehalten. Gerade die gesteigerte Tendenz zur Selbstoffenbarung in der schriftlichen computervermittelten Kommunikation soll hier für die kollegialen Beratungsprozesse genutzt werden.
Und nur der zeitversetzte Modus erlaubt die komplette zeitliche und örtliche Flexibilisierung der Beratung. Für das Beratungssetting ist dabei entscheidend, dass der Plattform kokom.net ein anderes Geschäftsmodell hinterlegt ist als bei kommerziellen sozialen Medien, deren Wirtschaftlichkeit in der Regel auf dem Verkauf der personenbezogenen Daten der Nutzenden zu Werbezwecken basiert. Weiterhin bietet die Plattform einen unabhängigen „dritten Ort“, weil sie verlässlich nicht dem Zugriff der eigenen Einrichtung und damit des Arbeitgebers unterliegt. Der - nachlesbare - Beratungsdialog und alle verbundenen Daten können von der Fallgeberin bzw. dem Fallgeber vollständig auf der Plattform gelöscht werden.
Eine weitere Besonderheit ist die computerunterstützte Moderation der kollegialen Online-Beratung. Die Rollen in der kollegialen Beratung eines Falles werden zunächst automatisch zugewiesen, sind dann aber verhandelbar. Durch die Plattform bekommt der oder die Moderierende systematisch Unterstützung, um die Gruppe Schritt für Schritt durch den Prozess zu führen und auf die Abfolge der zehn Handlungsschritte zu fokussieren, da diese Schrittfolge auf der Plattform modelliert ist. Diese Unterstützung macht es insbesondere den Moderierenden leichter, selbst auch mit zu beraten.
Evaluationsergebnisse – wie bewährt sich Kollegiale Beratung Online in der Praxis?
Kollegiale Beratung Online auf der Plattform kokom.net als „drittem Ort“ ist seit 2009 systematisch in den Online- Studiengang BA Soziale Arbeit (BASA-online) an der Hochschule München integriert, der sich an Berufstätige innerhalb des sozialen Sektors richtet.
Evaluationsergebnisse aus dieser Praxis zeigen eine überwiegend positive Bewertung der Möglichkeiten der Kollegialen Beratung Online und der Arbeit mit der Plattform kokom.net (ausführlich s. Arnold & Schindler 2018):
- Die Arbeit im Fallberatungsraum wurde von den befragten Studierendengruppen (2016-2018; insgesamt n=99) „als von gegenseitiger Wert- schätzung geprägt“ erlebt (100%) und als hilfreich für die jeweilige Praxis bewertet (83 %).
- In den Augen der Studierenden funktionierte die kollegiale Beratung ohne face-to-face Kontakt (95%).
- Die Aussage, dass die Beratungsprozesse vom bestehenden Sich-face-to-face-Kennen profitierten, hatte auffällig geringere Zustimmungswerte (74%).
- Insgesamt wurde die Fallarbeit im online-Beratungsraum als „ertragreicher als erwartet“ eingeschätzt (82%) und „gab Raum, auch Emotionen wahrzunehmen“ (82%).
- In zu früheren Zeitpunkten und weiteren Studie- rendengruppen erhaltenen, frei formulierten Feedbacks sind ebenfalls ein hohes Maß an anfänglicher Skepsis sowie einzelne Kritikpunkte an der Online-Umsetzung dokumentiert. Am häufigsten wurde damals die nicht individuell zu konfigurierende Benachrichtigungsfunktion über neue Beiträge per E-Mail kritisiert.
- Positiv wurde oft die klare vorgegebene Struktur und die computerunterstütze Moderation des Beratungsprozesses hervorgehoben.
- Die auf der Plattform durchgängig genutzte Raum-Metapher fand ebenfalls Anklang.
- Als kritischer Erfolgsfaktor wurden vielfach die geschützten Online-Räume genannt, die im Kontrast zu den oft im Alltag verwendeten „porösen“ Online-Räumen auf anderen Internetplattformen stehen und -anders als diese- ein Gefühl der Sicherheit vermitteln.
Einen weiteren -institutionellen- Gelingensfaktor benennt eine Studie zur Kollegialen Beratung Online in Kindertagesstätten: „Die Unterstützung durch den Träger“ (Brehm 2018, 48). Für eine systematische Einbettung innerhalb einer Einrichtung, z.B. im Rahmen der Personalentwicklung, ist diese unverzichtbar.
Fazit
Evaluationsergebnisse zeigen, dass Online-Beratung herkömmliche Beratungssettings sinnvoll ergänzen kann. Eine wichtige Rolle spielen dabei verlässliche und geschützte Online-Räume für die Kommunikation. Dies gilt auch für kollegiale Beratungsprozesse, die ohne Digitalisierung oft am fehlenden gemeinsamen Ort und Zeitfenstern scheitern mussten.
Literatur:
- Arnold, Patricia; Schindler, Wolfgang (2018). Kollegiale Beratung online als Brücke zwischen Studium und Praxis der Sozialen Arbeit. In: Arnold, Patricia; Griesehop, Hedwig Rosa; Füssenhäuser, Cornelia (Hg.) (2018): Profilierung Sozialer Arbeit online. Innovative Studienformate und Qualifizierungswege. Wiesbaden: Springer VS, 301-321.
- Brehm, Daniela (2018): Kollegiale Beratung Online als Methode zur Qualitätsentwicklung für ErzieherInnen in Kindertagesstätten. Bachelorarbeit an der Hochschule München, Studiengang ’BASA-online
- Döring, Nicola (2002). Gestaltung von sozialen Beziehungen im Netz. Folie im Vortrag bei der MaC*_plus- Fachtagung „Kompetent in virtuellen Räumen – Chancen außerschulischer Bildung“. TU Ilmenau. https://www.kokom.net/assets/oos/mdb/8/doering_2002-11-06.jpg [15.09.2018].
- Jiang, Crystal L.; Hancock, Jeffrey T.(2013). Absence Makes the Commmunication Grow Fonder: Geographic Separation, Interpersonal Media, and Intimacy in Dating Relationships. Journal of Communication 63 (3): 556–577.
- Meshi, Dar;. Tamir, Diana I; Heekeren, Hauke R. (2015). The Emerging Neuroscience of Social Media. Trends in Cognitive Sciences 19 (12): 771–782.
- Spangler, Gerhard; Schindler, Wolfgang (2016). Das Heilsbronner Modell. https://www. kokom.net/page_493.html [15.09.2018].
- Walther, Joseph B.; Burgoon, Judee K. (1992).Relational communication in computermediated interaction. Human Communication 19: 50–88.

Prof. Dr. Patricia Arnold
Professorin für Sozialinformatik
Prodekanin Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften
Hochschule München
Tel.: 089-12652344
arnold(at)hm.edu

Wolfgang Schindler
Diplom-Pädagoge & Supervisor
Geschäftsführender Vorsitz am Institut für kollegiale Beratung
Lehrbeauftragter Hochschule München
Tel.: 08026-977-978
w.schindler(at)kokom.net