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Von Prof. Dr. Richard Reindl

Onlineberatung - Neue Formen der Beratung in der Sozialen Arbeit

Vorbemerkung

Der Wandel in der kommunikativen Alltagspraxis zieht konsequenterweise auch einen Wandel der Beratungs- praxis nach sich, der spezifische Anpassungs-, Entwicklungs- und Transformationsanstrengungen nötig macht. Nicht nur die sogenannten neuen Medien sind nicht mehr ganz neu, auch die Beratung mithilfe neuer Medien, die Onlineberatung3, hat ihre Pionierphase bereits hinter sich (Kühne 2009).

Bereits vor gut 20 Jahren startete die Telefonseelsorge mit der Beratung über das Internet. Mittlerweile existiert eine Vielzahl an unterschiedlichen internetbasierten Beratungsangeboten, deren Bandbreite sich von der Beratung für spezielle Zielgruppen (z.B. trauernde Jugendliche) über bundesweite Angebote zur Erziehungs- oder Sexualberatung (z. B. bke – Bundeskonferenz für Erziehungsberatung; sextra.de – pro familia) bis zu lebenslagenorientierten Beratungsportalen (z. B. Onlineberatung des Deutschen Caritasverbandes) erstreckt. Insbesondere als Angebotsstruktur in der Kinder- und Jugendhilfe ist Onlineberatung mittlerweile fester Bestandteil (BMFSFJ 2013).

Allen Onlineberatungsangeboten ist gemeinsam, dass sie den interaktiven Austausch zwischen Ratsuchenden und Beratungspersonen digital über das Internet vermittelt gestalten. In der Regel wird eine spezielle Software eingesetzt, die die Kommunikation mittels Verschlüsselungstechnologien sicher gestaltet und die Vertraulichkeit der Beratung gewährleistet. Onlineberatung – wie sie derzeit verstanden wird – meint »eine aktive, helfende Begegnung resp. Beziehung zwischen der hilfesuchenden Person und der Fachperson« (FSP 2017). Darin unterscheidet sich Onlineberatung von Selbsthilfeportalen, die den helfenden Austausch von hilfesuchenden Personen untereinander pflegen sowie von automatisierten (Hilfe)-Programmen (Bots), bei denen ein Algorithmus (hilfreiche) Antworten auf die Anfragen Ratsuchender gibt.

Die häufigste Kommunikationsform ist dabei die dyadische, zeitversetzte Kommunikation zwischen einer/m Ratsuchenden und einer/m Berater/in, wie sie aus der E- Mail-Kommunikation bekannt ist. Darüber hinaus wird Beratung zeitsynchron in Form von Chats (Einzel- oder Gruppenchat) erbracht oder auch in mehr oder weniger öffentlich zugänglichen Foren, bei denen der Community-Aspekt (Thiery 2015) eine besondere Rolle spielt.
Schon 2004 hatte Frank Engel im Handbuch der Beratung gemutmaßt, dass wir künftig »Beratung nicht ohne den Bezug zu Neuen Medien beschreiben, planen oder durchführen [werden] können, dies weniger, weil es quantitativ zunehmend mehr Onlineberatungen geben wird, sondern – viel grundsätzlicher – aus einem im Alltag erfahrbaren Wirklichkeitsverständnis, das darauf basiert, dass Reales und Virtuelles gegeneinander durchlässig und miteinander verwoben ist« (Engel 2004). Heute scheint diese Wirklichkeitserfahrung ubiquitär und permanent, wie der Blick auf die Alltagskommunikation zeigt.

Veränderungen der Alltagskommunikation

Denn wir befinden uns heute mitten in einem tiefgreifenden Wandel der alltäglichen Kommunikation mithilfe sogenannter neuer Medien. Dabei geht mit der Nutzung der neuen Medien nicht nur eine quantitative Ausweitung der Mediennutzung generell einher, sondern Nutzung und Funktion unterscheiden sich auch qualitativ von der früher üblichen Mediennutzung. Wesentlich dazu beigetragen hat zum einen die Digitalisierung der Medien und zum anderen deren Verbreitung und Nutzung via Internet. Sowohl das Spektrum der Medienzugänge als auch die Nutzung von Inhalts- und Aktivitätsangeboten hat sich vervielfacht (Theunert & Schorb 2010), so dass sich die Kommunikationsroutinen einer ganzen Generation und mit ihr einer ganzen Gesellschaft ändern.

Dabei ist eine rasante technologische Entwicklung und damit verbunden ein rascher Wandel der Internetnutzung sowie der medial vermittelten Kommunikation zu konstatieren: Nach der ARD-ZDF-Onlinestudie nutzten im Jahr 2000 gut ein Viertel der Deutschen das Internet, im Jahr 2017 waren es bereits 90 %. Insbesondere ist eine tägliche, mobile Internetnutzung festzustellen, die das Internet zum täglichen Begleiter für alle möglichen Fragen und Themen werden lässt – und dies in allen Altersgruppen (Frees & Koch 2015). Angesichts des Erfolges von internetbasierten sozialen Netzwerken und Instant-Messaging-Diensten überrascht es kaum mehr, dass der größte Teil der Zeit, den die Menschen im Netz verbringen, mit Kommunikation genutzt wird (Koch & Frees 2017).

Diese grundlegenden Veränderungsprozesse der alltäglichen kommunikativen Praxis in unserer Gesellschaft auf der Basis neuer Technologien beschreibt Krotz in seinen Aus- und Rückwirkungen als Mediatisierung analog zu Globalisierung und Individualisierung. Damit werden Phänomene der medial vermittelten kommunikativen sozialen Praxis als Teil dessozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Wandels sichtbar (Krotz 2008): Auf der Basis der Digitalisierung wachsen Medien zu einem universellen Netz zusammen, an dem unterschiedliche Endgeräte hängen, über die Menschen Zugang zu den Inhalten haben. Es entsteht so neben den alltäglichen interpersonellen Beziehungen, aus denen sich das wesentlich auf Face-to-Face-Kommunikation gründende primäre Beziehungsnetz zusammensetzt, ein zweites kommunikatives Netz, das auch andere Begegnungsarten zulässt. Mit dem zweiten, weitgehend digital vermittelten Kommunikationsnetz werden neue Formen von Kommunikation ermöglicht, die (virtuelle) Erlebnisräume der Menschen öffnen und vertiefen. Durch die Entkoppelung der Beziehung von Ort und Zeit im zweiten Kommunikationsnetz strukturiert sich Begegnung und Beziehung stärker über Interessen und Inhalte, und klar abgegrenzte Lebensbereiche – wie beispielsweise Arbeit und Freizeit – gehen ineinander über und überlappen sich. In Folge dessen verändern sich die Beziehungen der Menschen untereinander wie auch ihre Alltagsstrukturen und ihre Sozialisationsbedingungen (Krotz 2008).

Diese Veränderungen sind auch in der Sozialen Arbeit offensichtlich und zeigen sich nicht nur in den digitalisierten Alltagswelten der Adressaten sowie der Fachkräfte. Sie zeigen sich sowohl in den Anlässen, aus denen Soziale Arbeit tätig wird, in den Formen der Bearbeitung sozialer Problemlagen sowie in den strukturellen und institutionellen Rahmenbedingungen (Kutscher, Ley & Seelmeyer 2015).

Bedeutung für die Beratungskommunikation

Für viele Menschen ist die digital vermittelte mediale Kommunikation bereits fest mit dem Alltag verwoben, so dass der Verzicht auf diese Kommunikation in vielerlei Hinsicht einem gesellschaftlichen (Teil-)Ausschluss gleichkommen würde (Wenzel 2015). Der Wandel in der kommunikativen Praxis zieht konsequenterweise auch einen Wandel der Beratungspraxis nach sich. Allerdings lässt sich hinsichtlich der Nutzung neuer Medien für Beratung eine gewisse Ungleichzeitigkeit feststellen, nach der es vor allem die Ratsuchenden sind, die ihre Anfragen auch über das digitalisierte zweite Kommunikationsnetz stellen, während die Beratungsfachkräfte sich mit Internetbasierten Beratungs- und Unterstützungsangeboten noch etwas zurückhalten (Alfert 2015; Wenzel 2015).

Eine mögliche Ursache hierfür stellt nach Wenzel der »Mythos der Unmittelbarkeit« der Face-to Face-Kommunikation dar, nach dem »die Beratung von Angesicht zu Angesicht […] der Telefonberatung, Mailberatung und Chatberatung […] überlegen sei« (Wenzel 2015). Entsprechend wurde – und wird manchmal noch – Onlineberatung als Surrogat für die eigentliche Form der Beratung, die Präsenzberatung angesehen (Reindl 2009).

Dabei ist die Nachfrage nach Beratung im virtuellen Raum insbesondere bei den Angeboten groß, die konsequent die Möglichkeiten der Onlineberatung nutzen: Allein an das trägerübergreifende Portal der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e.V. (bke), das bewusst unterschiedliche internetbasierte Beratungsmöglichkeiten anbietet, die nach individuellem Bedarf kombiniert werden können, wenden sich pro Jahr etwa fünf- bis sechstausend Jugendliche und Eltern mit ihren Fragen und Problemen. Seit Beginn der Onlineberatung der bke im Jahr 2003 summiert sich die Zahl der Ratsuchenden damit auf über 81.000 am Jahresende 2017 (bke 2017). Die Onlineberatung der Telefonseelsorge verzeichnete im Jahr 2016 mehr als 15.000 Ratsuchende, davon über 8.000 via Chat und 7.000 via webbasierter Mail (Telefon- Seelsorge in Deutschland 2016).

Mittlerweile hat sich eine differenzierte und methodisch vielfältige Onlineberatung etabliert (z. B. dialogische Ansätze, konfrontative Techniken, Krisenhilfe, etc.), so dass sich im Lauf der kurzen Geschichte der Onlineberatung neue Beratungsangebote für Zielgruppen entwickelt haben, die kaum in ein persönliches Beratungssetting kämen (Klein 2012; Wandhoff 2016).

Onlineberatung ist anders

Der Blick auf die Entwicklung der Onlineberatung in den letzten 20 Jahren zeigt, dass sich sehr unterschiedliche organisatorische und methodische Formen der Onlineberatung »von unten« entwickelt haben und diese Genese nicht der Systematik eines ausgereiften Konzepts folgt.4 Entsprechend gibt es eine große Bandbreite in der Qualität vorgehaltener Onlineberatungsangebote.

Onlineberatung erfordert sowohl fachliche, strukturelle als auch konzeptionelle Voraussetzungen. Denn Onlineberatung funktioniert anders als Beratung im Präsenzmodus:
Der kommunikative Austausch ist orts- und zeitungebunden und findet weitgehend textbasiert statt. Dadurch fallen alle nonverbalen Signale weg, so dass es für die Beratungsfachkräfte gilt, ihre vor allem auf dem visuellen Eindruck basierende diagnostische Kompetenz zu erweitern: Es bedarf neben einer generellen medialen Sachverständigkeit einer spezifischen hermeneutischen Kompetenz (Lese- und Schreibkompetenz), die in Texte gekleideten Problemlagen, deren Emotionen und Kognitionen lesend zu verstehen und das Beratungsangebot in einer auf die Person des Schreibenden passenden Antwort zu transportieren. Da in den gängigen Beratungs- und Supervisionsausbildungen Onlineberatung und Onlinekommunikation (noch) keine Rolle spielen, müssen diese Kompetenzen neu erlernt werden.

Weiterhin setzt die Vertraulichkeit der Beratung eine ver- schlüsselte Datenübertragung im Netz voraus wie auch eine verschlüsselte Ablage der Beratungsdaten auf einem Server. Hierzu sind datenschutzrechtliche und technische Vorkehrungen seitens des Anbieters/Trägers zu treffen. Eine Beratung per herkömmlichem Mailclient –beispielsweise auch zwischen zwei Präsenzberatungsterminen – genügt den Anforderungen eines vertraulichen Beratungsgesprächs eindeutig nicht.

Konzeptionelle Arbeiten sind erforderlich, um die Möglichkeiten einer internetgestützten Beratung sinnvoll zu nutzen und adressatengerechte, lebensweltorientierte Beratungs- und Unterstützungsangebote zur Verfügung zu stellen. Wird üblicherweise der Onlineberatung durch die Möglichkeit der Anonymität sowie der zeitlichen und örtlichen Flexibilität ihrer Inanspruchnahme ein niedrigschwelliger Zugang zur Lebenswelt ihrer Ratsuchenden unterstellt (Fieseler & Hentschel 2011), liegen die Chancen der Onlineberatung vor allem auch in der Entschleunigung der Beratung. Zwischen dem Absenden einer Anfrage und dem Erhalt einer Antwort, beispielsweise in der sog. Mailberatung, vergeht in der Regel ein Tag. Hinzu kommen die mit der Schriftlichkeit einhergehenden und mit der textbasierten Onlineberatung wiederentdeckten besonderen Vorteile für den Beratungsprozess: Schreiben ermöglicht Zugänge zu Unbewusstem (Schreibtherapie), bietet sich als selbstreflexives Medium an, erzeugt eine eigene Wirkmächtigkeit und vermag verdeckte Ressourcen neu zu deuten (Reindl, Hergenreider & Hünniger 2012).

Von den vielfältigen Zugangs- und Kommunikationswegen der Beratung profitieren die Beratungsfachkräfte ebenfalls, bieten sie doch die Möglichkeit, die eigene Arbeitsumgebung flexibler zu gestalten und methodisch vielfältiger zu beraten.

Je nach konzeptioneller Vorgabe, als eigenständiges Angebot oder als die klassische Beratung von Angesicht zu Angesicht ergänzende Beratung, hat der Betrieb einer Onlineberatung Auswirkungen auf die organisatorische Aufteilung der Beratungsangebote in den Einrichtungen. Die technische Möglichkeit, z. B. zu einem Beratungsgespräch weitere (externe) Experten/innen hinzuzuziehen, um der Komplexität einer geschilderten Problemlage zu begegnen, oder Peers aufgrund ihrer er- höhten Akzeptanz in die Beratung einzubinden, muss konsequenterweise mit organisatorischen Bedingungen hinterlegt sein. Ebenso beinhaltet der Wechsel zwischen Onlineberatung und Präsenzberatung innerhalb eines Beratungsverlaufs besondere Vorkehrungen z. B. zur Dokumentation.

Allerdings nutzen bislang nur wenige Onlineberatungsangebote derzeit das Potential einer internetgestützten Beratung im Sinne einer netzwerkorientierten Beratung und Unterstützung vollständig aus. So gibt es nur wenige Angebote, die beispielsweise trägerübergreifende und/oder fach- und professionsübergreifende Beratung bieten oder professionelle Beratung mit Peerberatung und Selbsthilfe systematisch verknüpfen. Oft stehen ei-ner netzwerkorientierten Beratung und Unterstützung sozialräumlich verplante und zugeteilte Ressourcen im Weg, an deren gebietskörperschaftlichen Grenzen das Netz nicht haltmacht. Hier scheint auf, wie tiefgreifend Digitalisierung und Mediatisierung der Sozialen Arbeit das bisherige wohlfahrtsstaatliche Gefüge durcheinander rütteln können.

Ausblick

Im Zuge einer nachholenden Modernisierung lässt sich die kurze Geschichte der Onlineberatung als organisatorisches Anschauungsbeispiel betrachten, wie sich Formen einer digitale Technologien aktiv nutzenden Handlungspraxis der Sozialen Arbeit etablieren und sich mit ganz spezifischen Anpassungs-, Entwicklungs- und Transformationsproblemen konfrontiert sehen (Wein- hardt 2009). Zu beantworten ist dabei nicht nur die Frage, wie beispielsweise Beratung in den virtuellen Raum transformiert werden kann und welche Kompetenzen dafür erforderlich sind, sondern auch wie sich sozialräumliche Budgets mit der netzweiten Inanspruchnahme vertragen.

Methodisch führt – wie Wenzel beschreibt – kein Weg daran vorbei, für die künftige Weiterentwicklung von Beratung und Therapie »die professionellen Interaktionen mit den jeweiligen Klient(inn)en als einheitliche Kommunikationsprozesse zu verstehen, die sich in verschiedenen Medien realisieren (Wenzel 2015) und eben nicht mehr zwischen online und offline zu trennen (blended counseling). Denn nur dann lässt sich der kommunikative Wandel hin zu einem mediatisierten Alltag für die Beratung fruchtbar machen.

Es scheint, als ob im Zuge der Digitalisierungsdebatte nicht mehr vorrangig die Nutzung des Internets durch die Adressaten Sozialer Arbeit kritisch begleitet wird, sondern neue Möglichkeiten des professionellen Handelns von Fachkräften Sozialer Arbeit (z.B. Onlineberatung) in den Mittelpunkt rücken. Zunehmend deutlich wird auch, dass die Fachkräfte für eine »digitalisierte« Soziale Arbeit zielgerichtet ausgebildet werden müssen. Für Dienste und Einrichtungen erfordert dies insbesondere eine strategische Planung und Konzeptentwicklung, der notwendige Ressourcen und ein Kompetenzaufbau bei den Fachkräften folgen sollten. Denn der »digital turn« wird vor einem der Kernbereiche Sozialer Arbeit, der Beratung nicht haltmachen. Wer, wenn nicht die psychosoziale Beratungscommunity selbst wäre besser dafür prädestiniert, den Wandel zur Beratung 4.0 mitzugestalten?


4 Bis heute gibt es keinen Plan, wie die Digitalisierung der (psychosozialen) Beratung in Deutschland entwickelt werden, was sie leisten sollte und wie sie finanziert werden kann. Eine originäre politische Zuständigkeit ist ebenfalls nicht erkennbar – nimmt man mal die Verortung der Digitalisierung beim Bundesverkehrsministerium aus.

Anmerkung:
Dieser Artikel ist vorab in der Zeitschrift Blätter der Wohl-fahrtspflege Heft 3 2018 S. 103-107 erschienen. Der Nomos Verlag hat uns freundlicherweise eine Abdruckgenehmigung erteilt.

Die für den Artikel herangezogene Literatur kann beim Autor erfragt werden.


Prof. Dr. Richard Reindl
Institut für E-Beratung
Technische Hochschule
Nürnberg Georg Simon Ohm

Keßlerplatz 12
904892 Nürnberg
Tel. 0911 5880-2533
richard.reindl@remove-this.th-nuernberg.de
www.e-beratungsinstitut.de