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Von Prof. Dr. Rita Hansjürgens

Die Rolle der Suchtberatung in der "Grundversorgung Sucht" - Ergebnisse einer wissenschaftlichen Expertise

Vorbemerkung

Suchtberatungsstellen haben seit langem einen festen Platz im Rahmen einer sog. „kommunalen Grundversorgung Sucht“. Diese hat sich zwar historisch regional unterschiedlich entwickelt, dennoch lassen sich Gemeinsamkeiten erkennen, die in einer vom Gesamtverband für Suchthilfe e. V. (GVS) - Fachverband der Diakonie Deutschland und der Caritas Suchthilfe e. V. (CaSu) in Auftrag gegebenen wissenschaftlichen Expertise (Hansjürgens, 2018b), herausgearbeitet werden konnten. Ergebnisse dieser Expertise sollen nachfolgend mit Blick auf die Funktion von Suchtberatung im Feld suchtbezogener Hilfen skizziert werden.

Der Begriff der „Grundversorgung“ kann auf zwei unterschiedliche Arten gelesen werden. Einerseits meint Grundversorgung aus administrativer Sicht die kommunale Bereitstellung basaler lebensnotwendiger Infrastruktur (sog. „Daseinsvorsorge“), die weit über medizinische Belange hinausgeht. Diese ist steuerfinanziert und wird durch politischen Willen gesteuert. Die Infrastruktur im Zusammenhang mit Suchtberatung bezieht sich auf das zur Verfügung stellen von Mitteln zur Beseitigung einer Notlage im Sinne der Verhinderung einer akuten Selbst- und/oder Fremdgefährdung[1]. Dieses beinhaltet, dass die Hilfe nicht auf Dauer ausgelegt ist und dem Modus von Fürsorge gehorcht. Die zweite Bedeutung von „Grundversorgung“ meint aus medizinischer Sicht einen inhaltlichen Auftrag zur Versorgung der Bevölkerung auf der Ebene der Hausärzt*innen und Allgemeinkrankenhäuser (sog. „primary care“).[2] Diese ist von einer Sekundärversorgung auf der Ebene der Fachärzt*innen und Fachkrankenhäuser zu unterscheiden. Auf der differenzierenden inhaltlichen Ebene wird Ärzt*innen der primary care die Erstversorgung / Erstberatung von Kranken und die Weiterleitung an Fachärzt*innen als Aufgabe zugeschrieben.

Historisch hat sich die Rolle der Suchtberatungsstellen so entwickelt, dass ihnen einerseits inhaltlich Teile der Aufgaben einer ärztlichen primary care zugeschrieben werden (Erstberatung, Motivation zur Annahme von und Vermittlung in weiterführende Hilfen), diese andererseits aber nach der Logik der Daseinsvorsorge als freiwillige kommunale Leistung nach dem Prinzip der Fürsorge eher prekär finanziert werden (Hansjürgens, 2018a, 2018b). Suchtberatung erfährt seit einigen Jahren eine, die Funktionalität der ihr zugeschriebenen Aufgaben gefährdende, Zuspitzung durch die zunehmende und sich inzwischen auswirkende Hilfesektoren übergreifende Umstellung der Finanzierungsprinzipien weg von einer Kostendeckung hin zu einer Ziel- und Kennzahlen orientierten Finanzierungsgrundlage. Aus diesem Grund soll diese Funktionalität bzw. die Rolle, die Suchtberatung im Rahmen einer Grundversorgung einnimmt, nachfolgend näher spezifiziert werden.

[1] Dieses wird länderspezifisch durch das Psychisch Krankengesetz (PsychKG) oder durch das Gesetz über den öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGDG) geregelt.

[2] Ärztliche Leistungen sind Leistungen der Sozialversicherung und gehorchen dem Solidarprinzip, d. h. jeder Versicherte hat Anspruch auf diese Leistung.

Tätigkeiten von Fachkräften Sozialer Arbeit in Suchtberatungsstellen

Suchtberatungsstellen als Organisation vereinen oft neben der eigentlichen Suchtberatung auch andere Angebote, die aus unterschiedlichen Finanzierungsquellen gespeist werden „unter einem Dach“ z. B. betreutes Wohnen, ambulante Rehabilitation, niedrigschwellige Kontaktangebote, um nur einige zu nennen. Daher haben sie sich aufgrund der regional unterschiedlich ausfallenden Nutzung von Finanzierungsquellen verschieden ausdifferenziert. Dies führt dazu, dass je nach dem in welcher Region ein Mensch mit als problematisch bewertetem Konsum von psychoaktiven Substanzen Hilfe sucht, unterschiedliche Angebote vorgehalten werden (können) und die Organisation Suchtberatungsstelle nur schwer bis gar nicht generalisierend beschrieben werden kann. Aus diesem Grund erscheint es sinnvoll, zwischen der Organisation Suchtberatungsstelle und der Funktion Suchtberatung zu unterscheiden.

Die im Rahmen der Funktion Suchtberatung tatsächlich wahrgenommen Tätigkeiten, konnten in einer explorativen Studie aufgrund von Selbstbeschreibungen von dort tätigen Fachkräften, die zu 62% aus der Sozialen Arbeit stammen, rekonstruiert werden (Hansjürgens, 2013). Danach werden die zugeschriebenen Aufgaben der „Beratung“ und „Vermittlung“ mit methodisch fachlichen Inhalten der Profession Soziale Arbeit gefüllt und umgesetzt. Zentraler Aspekt ist dabei die Entwicklung einer „vertrauensvollen Arbeitsbeziehung“ (Hansjürgens, 2018a), deren Bedingungen zur Entwicklung in einer Suchtberatungsstellen nun erstmals empirisch in einer Untersuchung beschrieben werden konnten (ebd.). Sie bildet die unverzichtbare Grundlage für einen integrierten, Hilfesektor übergreifenden Prozessbogen (Sommerfeld, Hollenstein & Calzaferri, 2011) im Modus der Kooperation, der wiederum eine kooperative Inanspruchnahme weiterführender Hilfen (sog. Motivation) als auch eine Begleitung eines längerfristigen Recoveryprozesses (Amering & Schmolke, 2012) erst ermöglicht. Weitere konkrete Tätigkeiten von Fachkräften in Suchtberatungsstellen können wie folgt benannt werden (s. Abb. 1):

  • längerfristige Beratung und Begleitung (als eigenständiges Profil nicht als primäre Zuarbeit für Rehabilitation)
  • eine qualitative Vermittlung in weiterführende Hilfen auf der Basis von Kooperation und als inhaltliche Vorbereitung auf diese Hilfen (z. B. Rehabilitation, betreutes Wohnen, Entgiftung etc.)  in Bezug auf biografische Exploration der Lebensumstände, Erarbeitung von Zielebenen der Hilfen usw.
  • längerfristige Begleitung bei (Wieder-) Eingliederung in das Alltagsleben, auch außerhalb von Nachsorge nach Rehabilitation
  • regionale Erschließung von Hilfenetzwerken für Betroffene und Angehörige

Wirkungen der Arbeit von Suchtberatungsstellen

In Bezug auf die Funktionalität dieser Ausführung der zugeschriebenen Aufgaben kann resümiert werden, dass Suchtberatungsstellen im Feld der suchtbezogenen Hilfen eine Brückenfunktion einnehmen, die z. Zt. nicht zu substituieren ist (Hansjürgens, 2018a, 2018b). Eine Untersuchung mit dem Ziel herauszufinden, wie die Funktion der „Vermittlung in Rehabilitation Sucht“ in hausärztliche Praxen, der eigentlich für diesen Bereich zuständigen Instanz der „primary care“, zu integrieren sei, konnte zeigen, dass dies zur Zeit nicht möglich ist (Fankhänel, Klement & Forschner, 2014). Dies wird u. a. explizit mit der Beziehungsdynamik zwischen Hausärzt*innen und einem als „schwierig“ geltenden Klientel (Giersberg et al., 2015) begründet. Die Forschergruppe bezeichnet dies als ein „Problem grundlegenderer Art, welches durch geringfügige Modifikation der Vorgehensweise […] nicht behoben werden konnte.“ (Fankhänel et al., 2014, S. 57)

Dennoch liegt neben dieser Funktion der „Vermittlung“ das eigentliche Potential der Hilfeart Suchtberatung in der „Beratung“, nicht verstanden als „Motivierung zur Rehabilitation“, sondern als ergebnisoffener Prozess mit dem Fokus auf Anliegen der Klient*innen und unter Einbeziehung professioneller und klient*innenbezogener Netzwerke und dies auch je nach Bedarf in langfristiger ggf. unregelmäßig getakteter Perspektive („Begleitung“). Diese Tätigkeit ist jedoch aktuell nicht standardmäßig flächendeckend mit angemessenen Ressourcen ausgestattet, so dass die Möglichkeit einer „Grundversorgung“ von Suchtkranken regional sehr unterschiedlich ausfällt. Dies ist insofern unbefriedigend, da mit Blick auf die Wirkung dieser Teilfunktion das Zahlenmaterial der Deutschen Suchthilfestatistik schon jetzt deutliche Hinweise auf Stabilisierungs- bzw. Besserungseffekte von Teilhabe in den Bereichen Wohnen, Lebensunterhalt, Partner*innenbeziehungen und Aufnahme einer Erwerbsarbeit (vgl. Braun, Specht, Thaller & Künzel, 2017b ) zeigt. Gleichwohl sollten diese Effekte noch genauer, insbesondere auch auf den Impact in Bezug auf Inanspruchnahme bzw. Nicht-mehr Inanspruchnahme kommunaler Hilfeleistungen, untersucht werden.

Fazit

Suchtberatungen nehmen eine Brückenfunktion im Feld suchbezogener Hilfen ein, die z. Zt. nicht zu ersetzen ist. Diese Brückenfunktion bezieht sich einerseits auf die von den Akteuren im Feld suchtbezogener Hilfen eingeforderte Entwicklung einer Veränderungsmotivation und eine Vermittlung in weiterführende Hilfen, insbesondere Rehabilitation, geht aber auch darüber hinaus, wie die Analyse der Deutschen Suchthilfestatistik nahelegt. Insbesondere die dort im Vordergrund stehenden Tätigkeiten einer fachlichen Beratung und Begleitung haben jedoch das Potential, diese Brückenfunktion auf Handlungssysteme (Sommerfeld et al., 2011) der Klient*innen (Wohnen, Erwerbsarbeit, Familie, soziales Nahfeld, Freizeit, usw.) im Sinne einer (Wieder-) Teilhabe an diesen zu erweitern. Die eher prekäre Finanzierungssituation gefährdet jedoch die aktuelle Funktion Suchtberatung und die Realisierung ihres Potentials. Wünschenswert wäre eine deutlichere formale Anerkennung der Funktion Suchtberatung durch die Leistungsträger im Feld suchtbezogener Hilfen und eine Neuverhandlung der Ressourcen, die es ermöglicht unabhängig vom Standort einer Suchtberatungsstelle allen Hilfesuchenden ein qualitativ gleiches Angebot im Sinne einer Grundversorgung Sucht anzubieten zu können.

Expertise Tätigkeiten und Potentiale der Funktion "Suchtberatung"

Literatur:

  1. Amering, M. & Schmolke, M. (2012). Recovery. Das Ende der Unheilbarkeit ; [Hoffnung macht Sinn] (5., überarb. Aufl.). Bonn: Psychiatrie-Verl.
  2. Braun, B., Specht, S., Thaller, R. & Künzel, J. (2017b). Deutsche Suchthilfestatistik 2016. Tabellenband für ambulante Sucht- und/oder Beratungsstellen und Institutsambulanzen. München: Institut für Therapieforschung (IFT).
  3. Fankhänel, T., Klement, A. & Forschner, L. (2014). Hausärztliche Intervention für eine Entwöhnungs- Langzeitbehandlung bei Patienten mit einer Suchterkrankung (HELPS). Sucht Aktuell (2), 55–59.
  4. Giersberg, S., Touil, E., Kästner, D., Büchtmann, D., Moock, J., Kawohl, W. et al. (2015). Alkoholabhängigkeit (Behandlungspfade für die ambulante integrierte Versorgung von psychisch erkrankten Menschen, / herausgegeben von Wulf Rössler und Jörn Moock, 1. Auflage). Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.
  5. Hansjürgens, R. (2013). "Zwischen den Stühlen". Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe. Forschungsbericht. Hochschule, Koblenz.
  6. Hansjürgens, R. (2018a). "In Kontakt kommen". Analyse der Entstehung von Arbeitsbeziehungen in Suchtberatungsstellen. Baden-Baden: Tectum-Verl.
  7. Hansjürgens, R. (2018b). Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung. Expertise im Auftrag von CaSu und GVS. Freiburg / Berlin: Gesamtverband für Suchthilfe e. V. - Fachverband der Diakonie Deutschland; Caritas Suchthilfe e. V. Zugriff am 08.12.2018. Verfügbar unter http://www.caritas-suchthilfe.de/informationen/positionen-und-stellungnahmen/positionen
  8. Sommerfeld, P., Hollenstein, L. & Calzaferri, R. (2011). Integration und Lebensführung. Ein forschungsgestützter Beitrag zur Theoriebildung der Sozialen Arbeit (1. Aufl.). Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss.

Prof. Dr. Rita Hansjürgens
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