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Von Dr. Ralf Drewes-Lauterbach

Abhängiges Verhalten und komorbide Störungen – eine verhaltenspraktische Perspektive

Wie die Überschrift verdeutlichen soll, möchte ich das Thema der komorbiden Störungen in der verhaltenstherapeutischen Arbeit mit abhängigen und/oder gefährdeten Menschen eher verhaltensnah angehen. Die notwendigen Darstellungen der empirischen Forschung zu diesem Bereich finden Sie in der überarbeitenden Ausgabe zu „Psychische Störungen und Suchterkrankungen“ von Walter & Gouzoulis-Mayfrank (1. Auflage 2014, Neuauflage Juni 2019) oder Moggi (2007) und werden als bekannt vorausgesetzt. Alle weiteren Ideen in diesem Artikel werden aus der Perspektive eines Praktikers formuliert, der mit allen Arten von abhängigem Verhalten in Beratung und ambulanter Rehabilitation arbeitet, mit dem Begriff einer kontinuierlichen Substanzgebrauchsstörung stark sympathisiert und seit 30 Jahren Verhaltenstherapie im professionellen Handeln theoretisch und praktisch umsetzt.

Aus meiner Erfahrung ist abhängiges Verhalten in all seinen Facetten schon lange nicht mehr die Spitze eines Eisberges, von dessen verborgenen Enden man nicht weiß. Die Ängste, Depressionen, Wahnvorstellungen, Traumatisierungen und vieles andere mehr, mit denen die Menschen zusätzlich zu den Abhängigkeitsproblemen zu uns in die „Suchtberatungsstelle“ kommen, sind alltägliche Realität in unserer Arbeit. Ohne an dieser Stelle auf die Besonderheiten des deutschen Unterstützungssystems für Menschen mit Abhängigkeitsproblemen eingehen zu können, ergeben sich daraus eine Reihe von Kooperationsherausforderungen (Fachärzt*innen, niedergelassene Psychotherapeut*innen, Psychiatrie, Rentenversicherung, Krankenkassen etc.), über die man einen eigenen Artikel schreiben kann. Jetzt geht es um die verhaltenstherapeutische und –praktische Herausforderung der Beratung und Behandlung von Menschen mit abhängigem Verhalten und weiteren psychischen Belastungen bzw. Erkrankungen.

Ich kann an dieser Stelle nur ein paar Erfahrungen aus der therapeutischen Arbeit herausgreifen, die mich immer wieder beschäftigen. Und ich tue dies aus der Perspektive eines Therapeuten, der es zunächst immer mit der Indikation „abhängiges Verhalten“ zu tun hat.

Wie die Überschrift verdeutlichen soll, möchte ich das Thema der komorbiden Störungen in der verhaltenstherapeutischen Arbeit mit abhängigen und/oder gefährdeten Menschen eher verhaltensnah angehen. Die notwendigen Darstellungen der empirischen Forschung zu diesem Bereich finden Sie in der überarbeitenden Ausgabe zu „Psychische Störungen und Suchterkrankungen“ von Walter & Gouzoulis-Mayfrank (1. Auflage 2014, Neuauflage Juni 2019) oder Moggi (2007) und werden als bekannt vorausgesetzt. Alle weiteren Ideen in diesem Artikel werden aus der Perspektive eines Praktikers formuliert, der mit allen Arten von abhängigem Verhalten in Beratung und ambulanter Rehabilitation arbeitet, mit dem Begriff einer kontinuierlichen Substanzgebrauchsstörung stark sympathisiert und seit 30 Jahren Verhaltenstherapie im professionellen Handeln theoretisch und praktisch umsetzt.

Aus meiner Erfahrung ist abhängiges Verhalten in all seinen Facetten schon lange nicht mehr die Spitze eines Eisberges, von dessen verborgenen Enden man nicht weiß. Die Ängste, Depressionen, Wahnvorstellungen, Traumatisierungen und vieles andere mehr, mit denen die Menschen zusätzlich zu den Abhängigkeitsproblemen zu uns in die „Suchtberatungsstelle“ kommen, sind alltägliche Realität in unserer Arbeit. Ohne an dieser Stelle auf die Besonderheiten des deutschen Unterstützungssystems für Menschen mit Abhängigkeitsproblemen eingehen zu können, ergeben sich daraus eine Reihe von Kooperationsherausforderungen (Fachärzt*innen, niedergelassene Psychotherapeut*innen, Psychiatrie, Rentenversicherung, Krankenkassen etc.), über die man einen eigenen Artikel schreiben kann. Jetzt geht es um die verhaltenstherapeutische und –praktische Herausforderung der Beratung und Behandlung von Menschen mit abhängigem Verhalten und weiteren psychischen Belastungen bzw. Erkrankungen.

Ich kann an dieser Stelle nur ein paar Erfahrungen aus der therapeutischen Arbeit herausgreifen, die mich immer wieder beschäftigen. Und ich tue dies aus der Perspektive eines Therapeuten, der es zunächst immer mit der Indikation „abhängiges Verhalten“ zu tun hat.

Diagnosestellung

Im Idealfall ist die Diagnosestellung im wissenschaftlichen Sinne ein geregelter Prozess, in dem verschiedene strukturierte Verfahren zu Anwendung kommen und nach dem im Ergebnis begründete Diagnosen für alle Problembereiche vorhanden sind. Aber für den Abhängigkeitsbereich gibt es viele Abweichungen von diesem idealtypischen Vorgehen, da Menschen oft mit sehr unterschiedlichen Motivationen in den Beratungsprozess kommen. So sind Personen, die auf Druck anderer Institutionen und/oder Menschen in die Beratungsstelle kommen, oft wenig gewillt, überhaupt über sich Auskunft zu geben. Oder es ist die Einschätzung vorhanden, ein Problem mit dem Konsum von Substanzen zu haben, aber alle anderen Lebensbereiche werden als funktional beschrieben. Oder Menschen sind aufgrund schwieriger Vorerfahrungen extrem misstrauisch und ihr durchaus begründetes Verhalten wird als psychiatrisches Symptom falsch gedeutet.

In solchen Situationen sind die Herstellung einer tragfähigen Arbeitsbeziehung und die respektvolle und ressourcenorientierte Informationserhebung von höchster Wichtigkeit. Eine Diagnosestellung kann nur prozessorientiert erfolgen und erfordert die Bereitschaft, Behandlungsziele neu zu definieren und funktionale Analysen aufgrund der fortschreitenden Offenheit der betroffenen Menschen zu revidieren.

Zusätzlich erschwert wird die Situation bei Menschen, die sich schon längere Zeit in Unterstützungssystemen befinden, durch eine große Zahl unterschiedlicher „Zusatzdiagnosen“, deren Relevanz oft unklar ist. Außerdem ist im Kontext der Substanzabhängigkeit die Frage nach der Persistenz verschiedener psychischer Beeinträchtigungen nach der Herstellung einer Abstinenz von hoher Wichtigkeit. Insgesamt sprechen diese Faktoren für einen sehr vorsichtigen und sparsamen Umgang mit Diagnosen und der wiederholten Überprüfung derselben im Rehabilitationsprozess.

Die funktionale Einbettung der problematischen Verhaltens- und Erlebensbereiche

Hat sich die Beratungs- und/oder Behandlungssituation soweit geklärt, dass von einer Problematik im Abhängigkeitsbereich und einer weiteren psychischen Störung auszugehen ist, ist eine konsequente funktionale Verhaltensanalyse (Neudeck & Cortez-Robles, 2017) der unerwünschten Verhaltensbereiche von größter Wichtigkeit. Dazu ist eine verhaltens- und erlebensnahe Erfassung aller Problembereiche die Grundlage und in einem zweiten Schritt können dann die funktionalen Beziehungen zwischen den Problembereichen erarbeitet werden. Hier sollten alle Techniken der Informationserhebung zum Einsatz kommen, die es der betroffenen Person einfacher machen, sich selber angemessen zu beobachten und zu beschreiben (Caspar & Belz, 2017) und auch die sozialen Rahmenbedingungen sind angemessen abzubilden.

Am häufigsten ist in diesem Zusammenhang die Hypothese der Selbstmedikation (der Substanzkonsum bzw. das abhängige Verhalten dient zur Regulation negativer Emotionen, die aus den weiteren psychischen Störungen resultieren) anzutreffen, die jedoch durch weitere Modellvorstellungen ergänzt werden muss. Die daraus häufig resultierenden Erklärungszirkel benötigen jeweils auch eine individuelle Zielplanung.

Suchttherapie trifft Psychotherapie

Hat man auf der Basis einer umfangreichen funktionalen Analyse der Problembereiche erste Arbeitshypothesen bzw. -diagnosen erstellt, beginnt die Planung der weiteren Behandlung für das Abhängigkeitsproblem und die weiteren psychischen Störungen. Und es prallen die unterschiedlichen Maßstäbe der Sozial- bzw. Sucht- und Psychotherapie aufeinander.

Beispielhaft sei hier nur der Umgang mit dem Vorhandensein der zu behandelnden Störungssymptome genannt. Ist bei einer Angststörung die Zunahme der Angstsymptome in der Regel mit einer Zunahme an unterstützenden Aktivitäten verbunden, kann im Abhängigkeitsbereich eine Zunahme der Symptome (z. B. Substanzkonsum) zum Abbruch der Maßnahmen führen. Und im Sinne einer funktionalen Verbindung (z. B. Selbstmedikationshypothese) der beiden Bereiche wäre (zumindest zu Beginn) bei einer Zunahme der Angstsymptomatik ein neuerlicher Substanzkonsum erwartbar und durchaus funktional.

Es ließen sich noch viele andere Situationen aufgreifen, wie z. B. die sozialarbeiterische Einbettung der Sozial- und Suchttherapie, die Betroffene und professionell Handelnde sehr viel näher zusammenbringen als in der ambulanten Psychotherapie oder die Messung von Fortschritten in den beiden Behandlungsformen (Abnahme der Symptome vs. stabiles Ausbleiben der Symptome), aber an dieser Stelle ist das leider nicht möglich.

Nach dieser kleinen Auswahl von Aspekten der verhaltenstherapeutischen Herangehensweise in der Arbeit mit Menschen mit Abhängigkeitsproblemen und komorbiden Störungen möchte ich zum Abschluss noch ein paar Wünsche für die weitere Entwicklung in diesem Bereich formulieren:

  1. Die Ausbildung zur Sucht- und Sozialtherapeut*in muss sich erweitern und in verstärktem Maße Grundlagen in der Diagnostik und Therapie von anderen psychischen Störungen vermitteln. Dies sollte die professionellen Unterstützer*innen dazu befähigen, komorbide Störungen besser zu erkennen und in den ersten Schritten auch zu behandeln.
     
  2. Es sollte eine intensivere Auseinandersetzung mit den Konsequenzen der integrierten Therapie von Abhängigkeitsproblemen und komorbiden Störungen für das Behandlungssetting insgesamt erfolgen. Damit ist sowohl die Abstinenzherstellung als Voraussetzung für den Erhalt psychotherapeutischer Unterstützungen gemeint wie der Umgang mit Einschränkungen in der Abstinenzfähigkeit im Kontext der Therapie der komorbiden Störung wie z. B. bei der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (vgl. Najavits, 2009).
     
  3. Es sollte eine weitere Verbesserung der psychotherapeutischen Versorgungssituation erfolgen, da eine notwendige Kooperation mit den örtlichen niedergelassenen Psychotherapeut*innen fast immer an deren Aus- und Überlastung scheitert. Gleiches gilt für stationäre Aufnahmen, die eine integrierte Behandlung der komorbiden Störungen erfordern. Dadurch werden die integrierten Behandlungsansätze zur Therapie von Abhängigkeitserkrankungen und komorbiden Störungen zumeist von den ambulanten Fachstellen alleine getragen.
     
  4. Schließlich sollte auch eine Flexibilisierung der Behandlungszeiten in Betracht gezogen werden, da sich die Therapie von Abhängigkeitserkrankungen im Kontext von starken komorbiden Störungen als sehr zeit- und ressourcenintensiv darstellt.
     

Vielen Dank für Ihr Interesse.

Literatur:

1. Brakemeier E.-L. / Jacobi F. (Hrsg.) (2017): Verhaltenstherapie in der Praxis. Weinheim: Beltz.
2. Casper, F. & Belz, M.: In Knappe, S. / Härtling, S. (2017): Diagnostik und Verhaltensanalyse – Techniken der Verhaltenstherapie. Weinheim: Beltz.
3. Moggi, F. (Hrsg.) (2007): Doppeldiagnosen: Komorbidität psychischer Störungen und Sucht. Bern: Huber.
4. Neudeck, P. & Cortez-Robles, S.: In Knappe, S. / Härtling, S. (2017): Diagnostik und Verhaltensanalyse – Techniken der Verhaltenstherapie. Weinheim: Beltz.
5. Najavits, L. M. (2009): Posttraumatische Belastungsstörung und Substanzmissbrauch – das Therapieprogramm „Sicherheit finden“. Göttingen: Hogrefe.
6. Walter, M. / Gouzoulis-Mayfrank E. (2019): Psychische Störungen und Suchterkrankungen. Stuttgart: Kohlhammer. (1. Auflage 2014)


Dr. Ralf Drewes-Lauterbach, Dipl. Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut (VT)
Fachambulanz Sucht Emsland, Diakonisches Werk
Landsbergstr. 9, 26871 Papenburg
Tel.: +49 4961 98880
r.drewes-lauterbach(at)diakonie-emsland.de