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Von Wolfgang Schuppert

Haus Obland – Entwicklung zur spezialisierten Übergangseinrichtung für Menschen mit Sucht und psychischer Erkrankung („Doppeldiagnose“) unter Beteiligung des Heimbeirats und der Bewohner*innen

Ausgangspunkt

In Folge der sozialpsychiatrischen Bewegung in den 1960er Jahren begannen engagierte Kolleg*innen Ende der 1970er Jahre im Haus Obland Wohnen für Menschen mit seelischen Erkrankungen nach den Leitideen der Psychiatrie-Enquete zu organisieren. Sie legten damit den Grundstein für den Fachbereich Menschen mit seelischen Erkrankungen und Suchterkrankung in Herzogsägmühle.

Mit dem Neubau des sozialpsychiatrischen Wohnens „Häuser am Latterbach“ wurden ab 1984 in Obland verschiedene stationäre Wohnformen für alkoholabhängige Menschen angeboten.

Wie in vielen Einrichtungen in Deutschland waren die Eckpunkte des damaligen sozialtherapeutischen Konzeptes u.a. eine strikte Orientierung am Abstinenzparadigma, restriktive Strukturvorgaben, Konfrontation abweichenden Verhaltens als eine der zentralen Methoden und die grundsätzliche Ablehnung von Medikation. Aufnahmeanfragen von Menschen mit Doppeldiagnose[1] wurden an die Akutpsychiatrie verwiesen. Sie galten als „Systemsprenger“[2], veränderungsunwillig, schwer oder gar nicht zu betreuen.

Für einen Teil der Bewohner*innen war dieser Ansatz hilfreich.

Ab den 2000er Jahren nahmen Aufnahmeanfragen von Menschen mit Doppeldiagnose zu bzw. fanden diese Zugang zum Angebot, ohne dass die Komorbidität zum Aufnahmezeitpunkt bekannt gewesen wäre. Ein Blick in die Epidemiologie[3] bestätigte den Eindruck, dass bei vielen suchtkranken Menschen weitere psychische Störungen diagnostiziert wurden. Mit der sich verändernden Bewohner*innenstruktur kam der bisher verfolgte fachliche Ansatz an seine Grenzen. V.a. häufte sich der vorzeitige Abbruch der Maßnahme. Dies führte ab 2012 dazu, das Angebot grundsätzlich zu überdenken.

[1] Zur besseren Lesbarkeit werden die Begriffe Doppeldiagnose, Mehrfachdiagnose, Komorbidität oder Sucht und psychische Erkrankung weitgehend synonym verwendet.

[2] vgl. D. Schwoon (2010, S. 9). In: H. Sadowski und F. Niestrat. Psychose und Sucht – Behandlung und Rehabilitation. Psychiatrie Verlag.

[3] Exemplarisch: E. Gouzoulis-Mayfrank (2014, S 75). In: Psychotische Störungen und komorbide Suchterkrankungen. Verlag Kohlhammer.

Paradigmenwechsel und Aufbruch

Ein Austausch mit den Kolleg*innen der Herzogsägmühler Sozialpsychiatrie ergab auch dort einen hohen Bedarf an spezialisierten Hilfen für diesen Personenkreis, so dass die Einrichtung eines Projekts „Wiedereingliederung für Menschen mit Doppeldiagnose“ nahe lag und eine Arbeitsgruppe, besetzt aus Mitarbeitenden beider Hilfesysteme und Bewohner*innen, eingerichtet wurde.

Die Ängste waren bei Bewohner*innen wie Fachkräften groß. So wurde die Sorge geäußert, dass eine Zunahme an Rückfällen, die herausfordernde psychiatrische Symptomatik, die vermeintlich fehlende Motivation der Zielgruppe oder ein vermutetes Dealen mit Medikation letztendlich nicht zu bewältigen seien. Auch lieb gewonnene Einstellungen zu der Frage was in der Suchthilfe wirklich wirkt, wurden kontrovers diskutiert.
Diese Anliegen mussten ernst genommen werden, damit das Projekt überhaupt eine Chance auf Realisierung hatte. Eine Reihe von Hospitationen in langjährig mit der Zielgruppe erfahrenen Einrichtungen (u.a. im Markus – Haus in Essen) sowie spezifische Schulungen gaben eine Vorstellung davon, dass es möglich sein könne, „... gut und erfolgreich mit diesen Menschen arbeiten zu können.“[4]
Es kann nur immer wieder betont werden: Die wiederkehrende Aushandlung der erforderlichen Haltungen bei allen Beteiligten, der transparente Einbezug der Bewohner*innen und die Geduld in einem lernenden System war für das Gelingen des Projekts unabdingbar.

Letztendlich waren sich Alle einig, dass nur eine Spezialisierung der Einrichtung erfolgversprechend sei. Spezialisierung - nicht im Sinne einiger „kosmetischer“ Verbesserungen, sondern im Sinne eines tiefgreifenden Paradigmenwechsels.
Die erforderlichen Ressourcen sollten über die Neuverhandlung der Leistungsvereinbarungen bereitgestellt werden.

Für die Konzeptentwicklung fehlten zunächst übergreifende Qualitätsindikatoren. Zusammen mit dem Vorstandsmitglied des GVS, Herrn Klinghammer, initiierten Mitarbeitende von Obland deren Entwicklung im Rahmen des Teilhabeausschusses des GVS[5]. Konzertiert werden konnten folgende Bausteine: das Vorliegen eines integrativen Betreuungskonzepts, eine niedrigschwellige Einstiegsphase, Individualisierung und Flexibilisierung des Angebots, Interprofessionalität, Einbezug fachärztlicher Behandlung, Vernetzung im Einrichtungsverbund und Kooperation mit Notfalldiensten. Parallel dazu wurde das neue Konzept entlang des sich entwickelnden Konsenses ausgearbeitet und schließlich dem federführenden Leistungsträger (Bezirk Oberbayern) vorgelegt.

Viele Elemente des neuen Konzeptes, wie z.B. die Lockerung der Übergänge zwischen verschiedenen Einrichtungen mit ihren unterschiedlichen Betreuungsintensitäten, waren zunächst nur schwer verhandelbar. Nachdem letztendlich der Bedarf durch den federführenden Leistungsträger Anerkennung fand und das Bundesteilhabegesetz (BTHG) die von uns gewünschte personenzentrierte, einrichtungsübergreifende Gesamtstruktur gesetzlich ermöglichte, konnte im Januar 2018 eine neue Leistungsvereinbarung abgeschlossen und im laufenden Jahr mit dem Neubau der Wohnbereiche begonnen werden.

[4] H. Sadowski und F. Niestrat (2019). Zwischenruf der ungeliebten Kinder. In: Kerbe – Forum für Soziale Psychiatrie. Themenschwerpunkt Sucht und Sozialpsychiatrie. 1/2019, 37. Jahrgang. BeB.

[5] vgl. Veröffentlichung im vorliegenden Themenmagazin

Elemente des Entwicklungsprozesses. Eine Auswahl.

Eine umfassende Darstellung aller Aspekte, die den Transformationsprozess in Obland letztendlich ermöglichten, ist im Rahmen dieses Berichts nicht möglich. Drei Elemente zeigten sich im Rückblick aber im Besonderen zielführend:

  • Mitbestimmung im Dialog
    Die Bewohner*innen reagierten zunächst mit Verunsicherung und Widerstand auf die Veränderungen. Galten doch bisher Abweichungen von Struktur und Regelwerk u.a. als Vorboten eines Rückfalls. Transparenz und die Ermöglichung von aktiver Mitgestaltung des neuen Angebots schufen Sicherheit und Einverständnis. Baupläne wurden dem Heimbeirat vorgelegt, der über die Hausversammlung Ideen aller Bewohner*innen einsammelte und so zu einer Verbesserung der Planungen beitrug. Hausstrukturen und Regelwerk wurden gemeinsam mit den Bewohner*innen entwickelt sowie strittige Punkte offen ausgehandelt, erprobt, verworfen, neugestaltet. Unverständnis für die Besonderheiten der Bewohner*innen mit Doppeldiagnose begegneten wir mit Aufklärung und Information. Unter fachlicher Begleitung informierten die Betroffenen ihre Mitbewohner*innen in einem psychoedukativen Prozess über die Erkrankungen und was hilfreich sei. Systematisch wird inzwischen gemeinsam mit dem Heimberat Feedback der Bewohner*innen ausgewertet und Brauchbares umgesetzt.
     
  • Flexibilisierung und Vernetzung des Angebots
    Menschen mit Doppeldiagnosen zeichnen sich u.a. durch erhebliche Schwankungen der Symptomatik aus; lineare Fortschritte im Betreuungsprozess sind selten. Die Angebote müssen dementsprechend so flexibel gestaltet werden, dass Belastungsfähigkeit der / des Bewohner*in und Anforderungsniveau des Programms zu jedem Zeitpunkt eng aufeinander abgestimmt sind[6]. Dies erfordert fortlaufende Erhebung psycho-sozialer Diagnostik. In der Praxis wurden z.B. Zeiten flexibilisiert und Angebote störungsspezifisch weiterentwickelt (wie z.B. die „lärmfreien“ Frühstückszeiten oder der Treff der Stimmen-Hörer eingerichtet). Neben der Entwicklung des stationären Angebots wurde ambulantes Wohnen mit ins Konzept integriert und die Übergänge flexibilisiert. Je nach gesundheitlicher Lage kann nun einfacher zwischen den unterschiedlich intensiv betreuten Wohnformen gewechselt werden. Die Inanspruchnahme von akutklinischer Behandlung ließ sich im Ergebnis senken.
     
  • ICF basierte Hilfeplanung
    Im BTHG ist die ICF (International Classification of Functioning) inzwischen als Grundlage für die Bedarfsermittlung in Rehabilitation und Wiedereingliederung festgeschrieben. Herzogsägmühle greift auf eine bald 20jährige Erfahrung[7] im Einsatz der ICF zurück, die mit geringfügigen Anpassungen auf Obland übertragen werden konnte. Die Befürchtung mancher Kolleg*innen der Suchthilfe, Beeinträchtigungen von substanzabhängigen Menschen lassen sich hiermit nur unzureichend abbilden, sind vor dem Hintergrund des störungsunspezifischen Ansatzes der ICF und in Hinblick auf das zugrundeliegende Bio-Psycho-Sozialen Modell unbegründet. Bewohner*innen wie Mitarbeitende wurden mit der Denkweise und Haltung der ICF gleichermaßen vertraut gemacht. In einer Verhandlung auf Augenhöhe ermöglichen ICF basierte Hilfeplanungen die Entwicklung eines gemeinsamen Problemverständnisses und zeigen gerade Bewohner*innen mit schwerer Beeinträchtigung und chronischen Verlauf eine Verbesserung von Aktivität und Teilhabe durch Modifizierung der Kontextbedingungen auf. Die Lebenszufriedenheit nahm zu und Konflikte rund um den „richtigen“ Weg wurden weniger.

[6] vgl. u.a. K. Dürsteler-MacFarland, G. A. Wiesbeck (2014, S. 52 ff.). In: Psychotische Störungen und komorbide Suchterkrankungen. Verlag Kohlhammer.

[7] vgl. K. Keller (2015, S. 28-31). Teilhabeplanung unter Nutzung der ICF in der medizinischen, beruflichen und sozialen Rehabilitation. Recht und Praxis in der Rehabilitation, 2. Jahrgang (Heft 1), Frankfurt am Main

Entwicklungsstand und Ausblick

Inzwischen ist Normalität eingekehrt! Seit Anfang 2018 arbeitet das Haus Obland nach neuem Konzept und angepasstem Personalansatz. Die Diagnosenverteilung der Bewohner*innen ist von regionalen Besonderheiten geprägt: Ca. 70 % Sucht und Psychose, ca. 20 % Sucht und emotionale Störungen, ca. 10 % ausschließlich Sucht.

Vieles wurde geschafft, einiges liegt noch vor uns. Um das lernende System nicht zu überfordern wurden Begrenzungen bei der Aufnahme gesetzt (z.B. keine Opiatabhängigkeit und keine „Borderline“-Störung). Eine Ausweitung der Aufnahmemöglichkeiten wird unter Einbezug der Kolleg*innen unseres Borderline-Projekts diskutiert. Auch sind Angehörige und v.a. die Selbsthilfe noch nicht ausreichend im Haus vertreten.

Unsere Bewohner*innen haben einen höheren Unterstützungsbedarf und fordern Mitbewohner*innen und Fachkräfte stärker. Ja, eine Herausforderung, aber machbar – bisher hat es sich gelohnt!

 


Wolfgang Schuppert
Regionalleiter für Suchthilfe und Jugendrehabilitation
Fachbereich Menschen mit seelischer Erkrankung und Suchterkrankung
Diakonie Herzogsägmühle gGmbH
wolfgang.schuppert(at)herzogsaegmuehle.de