Komorbidität bei Suchterkrankungen aus psychoanalytischer Sicht
Komorbidität bedeutet das gleichzeitige Vorhandensein verschiedener Störungs- bzw. Krankheitsbilder. Eine Suchterkrankung tritt nie isoliert auf. So wurde auch auf der letzten Fachtagung Sucht e.V. in 2018 festgehalten, dass ein abhängigkeitserkrankter Mensch immer unter verschiedenen Krankheitsbildern leidet, von denen eines die Sucht ist, und die alle behandelt werden müssen. Formal können dabei folgende Konstellationen unterschieden werden:
1. Die Suchterkrankung als komorbide Erkrankung, wobei eine andere psychische Störung im Vordergrund steht (z. B. eine psychotische oder Angststörung, die mit Alkohol „reguliert“ wird).
2. Eine somatische Erkrankung steht im Vordergrund, die dann eine Suchterkrankung mitbedingt (z. B. eine Krebserkrankung, bei der Angst bzw. Schmerzen ohne Suchtmittel nicht ertragen werden).
3. Die Suchterkrankung ist die zugrundeliegende Ersterkrankung, die eine andere psychische Störung nach sich zieht (z. B. eine reaktive Depression).
4. Die Suchterkrankung ist die Ersterkrankung, die zu einer somatischen Erkrankung führt (z. B. Polyneuropathie bzw. Leberzirrhose).
Bei den Suchterkrankungen finden sich nach Fischer (2008) häufig komorbide Persönlichkeitsstörungen bzw. Ich-Strukturdefizite. Durch die chronische toxische Wirkung des Suchtmittels entstehen weitere psychische und körperliche Veränderungen. Spezifisch für die Suchterkrankung ist dann der sich entwickelnde Circulus vitiosus, der immer tiefer in die Suchtspirale führt.
Die weltweit eingeführten medizinischen Klassifikationssysteme dienen der Beschreibung der jeweiligen Krankheitssymptome und sind Grundlage der wissenschaftlichen Verständigung und Forschung. Diese ständig weiterentwickelten Systeme liegen inzwischen in den Versionen ICD 10 (die Version 11 steht kurz vor der Veröffentlichung) und der amerikanischen DSM V vor. Gerade aber die Krankheitsbilder, die in den Bereich Psychiatrie und Psychosomatik fallen, beruhen oft v. a. auf fachlichen Konventionen der psychiatrischen Community und unterliegen damit auch dem Zeitgeist, was deutlich wird, wenn man sich die verschiedenen Versionen der ICD und der DSM im Laufe der Zeit anschaut.
Anders als diese beschreibenden Krankheitsklassifikationssysteme hat sich Krankheitsverständnis der Psychoanalyse aus der hermeneutischen Erfahrung der Arzt/Patienten-Beziehung heraus entwickelt, die vor allem auch das Unbewusste mit einbezieht. So gelangte Sigmund Freud zu der Analyse der unbewussten Übertragung, Gegenübertragung und des Widerstands gegen die Bewusstmachung der zugrundeliegenden Konflikte. In der psychoanalytischen Therapie werden die unbewussten Zusammenhänge zwischen verschiedenen Symptomen oder scheinbar unterschiedlichen Krankheitsentitäten bearbeitet. Im psychoanalytischen Prozess steht das sich unweigerlich unbewusst zwischen Therapeut*in und Patient*in entfaltende Geschehen im Zentrum, das vom Analytiker oder der Analytikerin auf Grundlage seiner/ihrer Gegenübertragung bewusst reflektiert und dann in einem zweiten Schritt in Sprache gefasst wird. In diesem Prozess wird so für Patient*innen die unbewusste Bedeutung ihrer reinzenierten Konflikte und Symptome bewusst erlebbar. Dadurch verbessert sich ihr innerer Handlungs- und Erlebensspielraum, affektive Vorgänge in ihnen selbst und in anderen werden erfahrbar (Empathie) und dadurch auch ihre Beziehungen tragfähiger.
Es wird heute übereinstimmend davon ausgegangen, dass die Entstehung einer stofflichen Suchterkrankung von einem multifaktoriellen Ursachenbündel bestimmt wird, das mit einem bio-psycho-sozialen Modell beschrieben werden kann. Hierbei verflechten und beeinflussen sich konstitutionelle und genetische Faktoren, frühe internalisierte Beziehungserfahrungen, erworbene Bewältigungsmechanismen des Ichs, aktuelle soziale Beziehungen und physiologisch-biochemische Auswirkungen des Suchtmittels gegenseitig im Sinne einer Ergänzungsreihe. Letzteres ist ein Begriff den schon Sigmund Freud verwendete, der damit beschrieb, wie psychische, physische und soziale Faktoren gemeinsam an der Entstehung einer psychischen Erkrankung beteiligt sind. Gesichert ist heutzutage z. B. die genetische Prädisposition von 50 bis 60 % bei der Alkoholabhängigkeit (Schuckit 1998; Feuerlein 1995). Letztlich werden aber nicht alle eineiigen Zwillinge mit dieser Prädisposition abhängig, so dass bei den Betroffenen weitere Faktoren, wie traumatisierende Beziehungserfahrungen, belastende Konflikte etc. hinzukommen müssen.
Feuerlein beschrieb schon 1969, dass man das Suchtgeschehen als Dreieck aus individueller Ebene, Droge und Umwelt betrachten kann, wobei sich diese drei Faktoren gegenseitig vielfältig beeinflussen, so dass hier nicht von unabhängigen Komorbiditäten gesprochen werden kann. Auf der sozialen Ebene kann eine Abstinenz-, Ambivalenz-, Permissiv- oder Excessiv-Kultur gegeben sein. Auf der individuellen Ebene liegt eine Kombination aus psychologischen, physiologischen und genetischen Faktoren vor. Das Suchtmittel selbst hat durch seine körperlichen Wirkungen wiederum einen Effekt z. B. auf Stimmung, Gedächtnis, Suchtdruck oder Leberfunktionen.
Das bio-psycho-soziale Modell liegt auch der aktuellen Internationalen ICF, der International Classification of Functioning, der WHO zugrunde, ein heute allgemein anerkanntes übergreifendes Krankheitsklassifikationsmodell, in das sich auch ein psychoanalytisches Krankheitsverständnis gut integrieren lässt. Die ICF basiert auf der gegenseitigen Bedingtheit und Beeinflussung der verschiedenen Ebenen. Sie beschreibt ein Gesundheitsproblem auf den sich gegenseitig beeinflussenden Ebenen Funktionsstörung/Strukturschaden, Beeinträchtigung der Aktivitäten und der sozialen Teilhabe, die auch noch durch fördernde und hemmende Kontextfaktoren beeinflusst werden.
Aus psychoanalytischer Sicht kann ein süchtiges Verhalten immer als eine Abwehrformation bzw. Reaktionsbildung gegen v. a. frühkindliche Ängste, Depressionen, Traumatisierungen, drohende somatische und psychotische Regressionen, Ich-Strukturdefekte oder Konflikte in der Persönlichkeit verstanden werden.
Anhand des Modells der männlichen Suchtentwicklung nach Bilitza (2008) kann beispielhaft gezeigt werden, wie sich diese psychischen Faktoren und Traumata gegenseitig beeinflussen. In der jeweiligen Lebensgeschichte findet sich oft ein schon früh abwesender Vater. Aufgrund des Fehlens bzw. Versagens des triangulierenden männlichen Objekts kann die verschmolzene frühe Mutterbeziehung dann nicht überwunden werden. Es kommt zur Persistenz einer hochgradig ambivalenten Abhängigkeit von der Mutter mit bewusster Idealisierung des weiblichen Objekts bei abgespaltener unbewusster destruktiver Wut auf sie. Die zu enge pathologische Bindung an dieses omnipotente Mutterobjekt führt dann zu einer Ich-strukturellen Störung. Diese Entwicklung führt also zu einem psychischen Strukturniveau, das sich auch schon in Verhaltens- und Erlebensauffälligkeiten zeigen kann. Oft stehen dem Jungen dann auch in seiner ödipalen Phase, seiner männlichen Identitätsentwicklung keine orientierenden, haltgebenden männlichen Objekte zur Verfügung, bzw. sie versagen in der ödipalen Triangulierung. Daher können die ödipalen Konflikte, wie Auseinandersetzung und Identifizierung mit dem Vater, nicht bewältigt werden. Es kommt zur verstärkten Ich-Schwäche und Störung der männlichen Selbstwertregulation und damit einer psychischen Störung. In der Pubertät können von dem Jungen dann die äußeren Anforderungen nicht erfüllt werden. Der ausprobierende Substanzkonsum dieses Jugendlichen dient dann noch als vorläufiger künstlicher Ersatz für nicht ausreichende Ich-Funktionen. Fehlen in der Adoleszenz korrigierende und haltgebende äußere Bezugspersonen, bildet der junge Mann dann über Missbrauch und Gewöhnung eine manifeste Substanzabhängigkeit aus. Zunächst kommt es hier also zur Manifestation einer psychischen Erkrankung, wie einer Angsterkrankung, Zwangserkrankung oder Depression, als Fehlanpassung. Dann kommt es beim Kontakt mit dem Suchtmittel zur Kompensation im Rahmen einer Suchtentwicklung bzw. zum Inszenieren eines unbewussten Konflikts mittels des Substanzkonsums.
Süchtiges Verhalten kann von Betroffenen bei unterschiedlichen psychischen Erkrankungen eingesetzt werden. In der Sucht wird der Alkohol aufgrund seiner Wirkung als omnipotentes unbelebtes Objekt erlebt. Über ihn kann z. B. das Unvereinbare von Fusion und Getrenntsein von der Mutter scheinbar miteinander vereinbart werden. Das unbelebte Objekt „Alkohol“ (Voigtel 1996) ist verlässlich, berechenbar, verfügbar, nicht enttäuschend oder beschämend, ängstigend und stellt keine unerfüllbaren Ansprüche wie menschliche Objekte. So kann ein Kompromiss zwischen Abhängigkeitsangst und Beziehungswunsch gelebt werden. Alkohol schafft die Illusion, jederzeit die gefährliche und enttäuschende Abhängigkeit von Menschen aufgeben zu können. Am Ende kehrt die Abhängigkeit aber im Sinne der Wiederkehr des Verdrängten wieder, als Abhängigkeit von der Droge. Alkohol ist auch ein ideales Medium für die Realitätsverleugnung in Richtung eines positiveren Selbstbilds und für den Abbau innerer Spannungen mit einem positiveren emotionalen Erleben. Nach Rado (1934) kann die Droge auch helfen, ein instabiles Selbstgefühl zu kompensieren. Nach Heigl-Evers (1991) kann das Suchtmittel die Aufgaben einer stabilisierenden primitiven guten Teilobjekt-Beziehung bei Ich-strukturellen Störungen erfüllen. Auch kann nach Fenichel (1945) Alkohol z. B. bei Zwangsstörungen oder Essstörungen innere Erleichterung verschaffen, da „das Über-Ich derjenige Teil des Selbst ist, der gut in Alkohol löslich ist“.
Aus psychoanalytischer Sicht bestehen also bei suchtkranken Patient*innen zwischen den psychischen Symptomen immer kausale Zusammenhänge und gegenseitige Beeinflussungen. Eine Unterscheidung zwischen sogenannten unabhängigen komorbiden psychischen Erkrankungen bei ein und dem/derselben Suchtpatienten/in ist also eine rein künstliche und greift zu kurz.
Dies soll ein Beispiel verdeutlichen: Nachdem sich seine Eltern scheiden ließen als er drei Jahre alt war, wuchs der heute 24jährige Hr. M. bei seiner alleinerziehenden, überforderten Mutter auf. Die Ehe seiner Eltern scheiterte, da der Vater alkoholabhängig war (genetische Vorbelastung). Schon früh fühlte sich der kleine Junge alleingelassen und überfordert. Er wurde oft alleine vor den Fernseher gesetzt und war mit seinen Ängsten sich selbst überlassen, da seine Mutter arbeiten musste. Er entwickelte damals viele Ticks, Konzentrationsstörungen und Hyperaktivität. Nach heftigen aggressiven Verhaltensauffälligkeiten in Kindergarten und Schule, wurde bei ihm vom Psychiater die Diagnose ADHS gestelltund er wurde auf Methylphenidat eingestellt. Seine allgemeinen und sozialen Ängste besserten sich in der Folgezeit aber nicht. Angeregt von Klassenkameraden inhalierte er Klebstoffe und begann mit 11 Jahren auch Cannabis zu rauchen. Hr. M. entwickelte zunehmend mehr Ängste vor seinen Mitmenschen, zog sich zurück und entwickelte Depressionen und Suizidgedanken. In der Schule versagte er und verließ diese mit 14 Jahren nur mit einem Abgangszeugnis. Er zog von zuhause aus, lebte eine Zeitlang auf der Straße und wurde dort vergewaltigt. Dieses Trauma erlebte er immer wieder in Flashbacks, was seine allgemeinen und sozialen Ängste noch verstärkte. Er begann Heroin i. v. zu konsumieren, wodurch seine Ängste zunächst nachließen. Er infizierte sich dadurch aber mit einer chronischen Hepatitis C. Nach einem Beschaffungsdiebstahl bekam er eine Therapieauflage. Er begann in unserer Klinik eine stationäre Langzeittherapie. Wir könnten bei Hr. M. nach der ICD 10 eine ich-strukturelle Persönlichkeitsstörung, Polytoxikomanie, Angst und Depression gemischt, soziale Ängste, PTBS, chronische Hepatitis C und ADHS diagnostizieren. Aber führt ein solches Konglomerat an Diagnosen weiter? Letztlich sind diese Krankheitssymptome und Leiden kausal miteinander verflochten und sind somit auch nur multidimensional und integrativ zu behandeln.

Dr. med. Peter Subkowski
Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, -Rehabilitationswesen, -Sozialmedizin, Lehranalytiker /DPV/IPA), Ärztlicher Direktor des Paracelsus-Therapiezentrums, Bad Essen
dr.subkowski.paracelsus(at)t-online.de