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Von Dr. med. Darius Tabatabai

Komorbidität in der Suchtkrankenhilfe - ein wichtiges Standardthema

Der Begriff „Komorbidität“ beschreibt allgemein das Auftreten zusätzlicher Erkrankungen im Rahmen einer definierten Grunderkrankung, ohne die Beziehung der Erkrankungen in Kausalität zu stellen. Im Zusammenhang mit Abhängigkeitserkrankungen bzw. Konsumstörungen ist die Auseinandersetzung mit dem Vorliegen bzw. Vorhandensein von „Komorbidität“ in allen Bereichen der Suchtkrankenhilfe von Bedeutung: Komorbidität beeinflusst den Verlauf der Erkrankung maßgeblich und prägt auch die Form und Abfolge von notwendigen Hilfen. Die Auseinandersetzung mit der Komorbidität bei Abhängigkeitserkrankungen macht zusätzlich gesellschaftliche Grundhaltungen und Spannungsfelder sichtbar. Auf diesen Aspekt und die spezifischen suchtmedizinischen Aspekte soll im Weiteren eingegangen werden.

Das gemeinsame Auftreten von Depressionen, Ängsten, Persönlichkeitsstörungen, Erkrankungen aus dem Psychose-Spektrum, Essstörungen mit Konsumstörungen hat eine große epidemiologische Bedeutung und ist ein ständiger Gegenstand der Forschung. Es gibt mittlerweile gesicherte kausale Zusammenhänge, wie zum Beispiel das doppelt so hohe Risiko für Menschen mit Depressionen, eine Konsumstörung zu entwickeln (Soyka 2014). Auch der kausale Zusammenhang von Cannabiskonsum und der Risikoerhöhung für Schizophrenie ist gesichert (u.a. Kuepper et al 2011). Die wissenschaftliche Klärung kausaler Zusammenhänge von Depression und Alkoholabhängigkeit nahmen auch Boden und Fergusson (2011) zum Anlass für eine große Metaanalyse. Sie fanden heraus, dass sekundäre Depressionen (als Folge der Alkoholabhängigkeit) offenbar überwiegend anzutreffen sind, aber auch primäre Depressionen. Daran schließen sich Fragen nach der schrittweisen Behandlung an: welche Störung muss zuerst behandelt werden, um Erfolg zu haben? Und mit welchen gesellschaftlichen Einflussgrößen haben es Betroffene zu tun, bei denen eine Konsumstörung und weitere psychische Erkrankungen gleichzeitig auftreten?

Unverändert benötigen etwa 2/3 der von Alkoholabhängigkeit betroffenen Menschen im Durchschnitt 11,8 Jahre, um erstmals qualifizierte Hilfe zu bekommen. Als negativer Kontextfaktor spielt hier das sogenannte „Stigma der Sucht“ eine bedeutsame Rolle. Seit mehr als 10 Jahren beschäftigt sich eine Greifswalder Arbeitsgruppe um Professor Dr. Schomerus mit den gesellschaftlichen Bewertungen von Abhängigkeitserkrankungen. In repräsentativen Befragungen konnte dabei herausgestellt werden, dass mehr als 80% der Bevölkerung die Ansicht vertreten, Alkoholabhängigkeit ist „selbst verschuldet“. Das Bedürfnis nach sozialer Distanz gegenüber alkoholabhängigen Menschen vertraten 70%. Und auch bei der Frage nach dem möglichen Einsparpotential im Gesundheitssystem nahm die Alkoholabhängigkeit die „Spitzenposition“ ein: Mehr als 50% der Befragten ordneten dies so ein. In der Realität stehen den Gewinnen der Alkoholindustrie und den staatlichen Steuereinnahmen in Höhe von 17 Mrd € jährllich volkswirtschaftliche Verluste von rund 58 Mrd € im gleichen Zeitraum gegenüber.        

Für das verbliebene Drittel obengenannter Abhängigkeitserkrankter ist häufig das Prinzip Komorbidität die Eintrittspforte zu anderen, nicht suchtspezifischen Hilfen. Hier stehen dann zunächst Depression, Angst oder psychosomatische Themenkomplexe incl. der Schmerzsyndrome im diagnostischen Fokus. Die Komorbiditäten wie z.B. Depression und Schizophrenie erzeugen zwar in der Bevölkerungsbefragung ebenfalls Effekte von Ablehnung, jedoch weniger als die Suchterkrankung. Die von Konsumstörungen betroffenen Menschen spüren dieses Stigma sehr deutlich und ein großer Teil versucht die Störung zu verbergen, wie folgende Fallvignette darstellen soll:

Heinz M. ist ein 47jähriger Verwaltungsangestellter, der von seinem Arbeitgeber aufgefordert wurde, wegen nachlassender Leistungsfähigkeit und eines möglichen Zusammenhangs zur wiederholten Ansprache wg. Restalkohol am Arbeitsplatz, qualifizierte suchttherapeutische Hilfen nachzuweisen. In der Suchtberatungsstelle berichtet Heinz M., dass er etwa seit 2 Jahren nach der Trennung von seiner Ehefrau Depressionen und Schlafstörungen entwickelt hat, die er im Sinne einer Selbstmedikation mit Alkohol und Cannabis behandelte. In der genauen Exploration berichtet Heinz M., dass es rasch zu Kontrollverlusten gekommen sei, die dann auch zum Restalkoholphänomen am Arbeitsplatz führten. Heinz M. nahm die Empfehlung seiner Beraterin in der Suchtberatungsstelle an und führte eine qualifizierte Entzugsbehandlung mit anschließender Entwöhnungsbehandlung durch. In den Behandlungen reflektierte Heinz M. dann den Verlauf der Konsumstörung kritisch. Heinz M. stammt aus einem Elternhaus, in dem der Alkoholkonsum etabliert war. Schon in der Pubertät konsumierte Heinz M. Alkohol zur Regulation sozialer Ängste. In der späteren ehelichen Beziehung zog sich Heinz M. in Konfliktsituationen immer wieder in den Alkoholkonsum zurück, weil er sich diesen Situationen ohne Konsum nicht gewachsen fühlte. Im Rahmen der Therapiegespräche ordnete Heinz M. dann allmählich ein, dass die Trennung der Ehefrau ein Resultat des Konsums war. Die darauffolgende Depression eher als sekundäre Depression eingeordnet werden kann. Im Rahmen der Entwöhnungstherapie wurde auch deutlich, dass die Furcht vor gesellschaftlicher Ablehnung die Auseinandersetzung mit der Konsumstörung mitbedingte. Bei Heinz M. war die Ausgangssituation der Konsumstörung noch gut erkennbar. In anderen Fällen ist diese Ausgangsproblematik gar nicht immer erkennbar, weil die Konsumstörung sich verselbständigt hat. Im Diagnostik-Manual-OPD-Abhängigkeitserkrankungen wird mit der sogenannten Suchtspirale das Ausmaß der Verselbständigung operationalisiert. Mit ihr kann die Zuordnung gelingen, ob eine Ausgangsproblematik noch erkennbar ist oder bei einem hohen Grad der Verselbständigung der Konsumstörung gar nicht mehr entscheidend ist. Dies ist nur ein Beispiel aus dem Bereich der psychischen Komorbidität.

Spezielle Anforderungen stellen sich auch in der Auseinandersetzung mit der somatischen Komorbidität. Auch hier kann das Stigma der Abhängigkeitserkrankung dazu führen, dass ein Patient und Arzt einen somatischen Fokus beibehalten, obwohl die zugrundeliegende Abhängigkeitserkrankung erkennbar ist. Ein mögliches Beispiel dafür: Bei einer 2011 durchgeführten Stichprobe fanden sich in den Vivantes-Kliniken in Berlin 1523 Fälle einer alkoholtoxischen Lebererkrankung. Nur in 720 Fällen wurde die Grunderkrankung ´Alkoholabhängigkeit´ (ICD F10.2) erfasst und kodiert. Obwohl im DRG-System sich die Kodierung positiv auf das ökonomische Gesamtergebnis des Falles ausgewirkt hätte. Auch hier stellt sich die Frage, ob es vielleicht „falsches Taktgefühl“ ärztlicherseits ist, welches die Grunderkrankung ausblendet.

Auch in der somatischen und psychosomatischen Rehabilitation spielt problematischer Suchtmittelkonsum eine Rolle, fällt dort aber eher selten auf und wird entsprechend des „falschen Taktgefühls“ ebenfalls selten angesprochen. Die Deutsche Rentenversicherung förderte daher zwischen 2014-2015 das Projekt „Praxisempfehlungen zum Umgang mit komorbiden Suchtproblemen in der somatischen und psychosomatischen Rehabilitation“ am Institut für Qualitätsmanagement und Sozialmedizin (AQMS) der Universitätsklinik Freiburg. Die Empfehlungen für den klinischen Alltag  liegen seit 2016 auf der Homepage der AQMS unter www.imbi.uni-freiburg.de als Download zur Verfügung.

Die Auseinandersetzung mit somatischer Komorbidität bei Abhängigkeitserkrankungen stellt insgesamt eine große Herausforderung dar, da die Vielfalt und die Ausprägungsgrade der Komorbidität sehr groß sind. Gerade im Behandlungsverlauf einer Entzugs- oder auch einer Entwöhnungsbehandlung müssen sehr komplexe Behandlungssituationen verstanden und bewältigt werden. Die demografische Entwicklung impliziert zudem eine wachsende Bedeutung des Themas „Sucht im Alter“, bei der das Thema somatische Komorbidität einen Standard darstellt. Ein integratives Leistungspaket suchtmedizinischer Prägung mit psychiatrischen und somatischen Behandlungskomponenten ist dafür erforderlich. Insbesondere das pharmakologische Monitoring verdient dabei Beachtung. Die deutliche Verbesserung der inhaltlichen Verzahnung ambulanter und stationärer Versorgung ist dabei Grundvorrausetzung. Im Rahmen der eigenen Tätigkeit fallen immer wieder Fälle auf, bei denen Menschen sowohl im ambulanten als auch im stationären Behandlungssetting mit pharmakologischer Polypragmasie behandelt werden. Dazu wiesen Budnitz et al. 2011 nach, dass 20% - 25% aller Krankenhauseinweisungen in den USA - die Menschen im Alter von 65 Jahren und älter betreffend - auf unerwünschte Nebenwirkungen von Medikamenten zurückzuführen sind. Diese Fälle sollen nicht als pauschale Schelte verstanden werden. Die Krankenhausabteilungen versuchen unter einem erheblichen ökonomischen Druck vernünftige Behandlungsergebnisse zu erziehen, haben dabei zum Teil aber nur sehr kleine Spielräume. So erfordert eine qualifizierte Entzugsbehandlung einen erheblichen bürokratischen Aufwand (ausführliche Dokumentation und wiederholte Verlängerungsanträge beim MDK) mit gleichzeitigem Restrisiko, die durchgeführte Behandlung nicht vollständig vergütet zu bekommen.

Fazit

Die Auseinandersetzung mit der Komorbidität von abhängigkeitserkrankten Menschen wird sowohl in der Akut- als auch in der Postakutbehandlung zunehmende Bedeutung erfahren. Das Greifswalder Memorandum von 2017 motiviert, das Stigma der Sucht zu erkennen und es zu behandeln. Gleichzeitig hat der Ökonomisierungsgrad des Gesundheitssystems den Grad der Vernunft überschritten. Der sinnvolle Einsatz von Ressourcen mit der Orientierung an den ökonomischen Rahmenbedingungen ist erforderlich. Dagegen wehrt sich niemand mehr im Gesundheitssystem. Gerade komorbide Patienten sehen sich im Gesundheitsbetrieb aber vielen Anreizen ausgeliefert, mit denen sie nicht mehr als ein Mensch mit einer komplexen Behandlungssituation betrachtet werden, sondern eher wie eine „Diagnosesammeltüte“, aus der man die bestmögliche Wertschöpfungskette basteln muss.

Das DSM-5 liefert mit dem Konzept der Konsumstörung einen sehr brauchbaren Ansatz, mit dem man die Entstigmatisierung der Suchterkrankungen vorangetrieben werden kann. Andererseits gaben 72% der Autoren des DSM-5 an, im Interessenkonflikt mit der Pharmaindustrie zu stehen. Dies kann ein Erklärungsansatz dafür sein, dass es eine erneute Diagnosevermehrung zu beobachten gibt. Hierdurch bekommt das Thema ´Komorbidität´ möglicherweise eine wachsende Bedeutung eines Faktors in der „Wertschöpfungskette“.


Dr. med. Darius Tabatabai
Hartmut-Spittler-Fachklinik am Auguste-Viktoria-Klinikum
Darius.ChahmoradiTabatabai(at)vivantes.de