Komorbidität: Sucht und psychische Erkrankung (Doppeldiagnose)
In den Einrichtungen der Suchthilfe begegnen uns immer wieder Menschen, die viele Jahre kämpfen und vom Hilfesystem an ihrer Motivation zu Veränderungen gemessen werden. Jedoch begegnet uns in der Symptomatik der Sucht oft nur die Spitze des Eisberges. Mehrere Erkrankungen und Störungen, die sich über Jahre entwickelt haben und nicht behandelt wurden, liegen darunter. Dies sind Persönlichkeits- und weitere psychische Störungen. Die Behandler*innen und Fachkräfte in den Hilfesystemen fragen sich: Was war zuerst vorhanden – die Abhängigkeitserkrankung oder die psychischen Störungen oder war die Sucht ein Selbstbehandlungsversuch? Somit baute sich bei diesem Personenkreis ein Kreislauf von gescheiterten Bewältigungs- und Behandlungsversuchen im Suchthilfe- oder im Psychiatriesystem auf. Oft sind die Forderungen - Bevor die psychischen Störungen zu behandeln sind, muss erst die längerfristige Abstinenz nachgewiesen werden oder bevor die Sucht behandelt werden kann, muss erst die psychische Störung behandelt werden. Jedoch kann keine Störung oder Erkrankung losgelöst voneinander bewältigt werden. Seit mehreren Jahren beschäftigen sich Fachleute mit dieser Problematik. Im Suchthilfesystem entstanden Einrichtungen für Menschen mit Doppeldiagnosen und weitere Einrichtungen stellten sich dieser Problematik.
Der Fachausschuss Teilhabehilfen beschäftigte sich in mehreren Sitzungen mit Qualitätsmerkmalen für diese Einrichtungen. Daraus ist ein Papier entstanden, das die Qualitätsmerkmale beschreibt und einen Standard für Einrichtungen der Eingliederungshilfe definiert, um so erfolgreich den Personenkreis mit Doppeldiagnosen und Komorbidität zur Teilhabe in der Gemeinschaft zu befähigen.
Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre und freuen uns über weitere Anregungen oder Erfahrungen bei der Umsetzung der Qualitätsmerkmale. Sie können diese gerne über die Geschäftsstelle des GVS an den Fachausschuss Teilhabehilfen schreiben.
Ralf Klinghammer
Positionspapier "Komorbidität: Sucht und psychische Erkrankung (Doppeldiagnose)"

Ralf Klinghammer
stellv. GVS Vorstandsvorsitzender
Hoffnungstaler Stiftung Lobetal
Tel.: +49 3338 6671 0
suchthilfe(at)lobetal.de
Komorbidität: Sucht und psychische Erkrankung (Doppeldiagnose): Qualitätsmerkmale spezialisierter SGB XII – Einrichtungen
1. Ausgangslage
Menschen, die unter einer Abhängigkeitserkrankung und mindestens einer weiteren psychischen Erkrankung nach ICD-10 leiden, wurden im Suchthilfesystem lange Zeit unzureichend betreut und behandelt bzw. konnten mit den traditionellen, sequentiellen Ansätzen („erst die Sucht, dann die psychische Erkrankung“) nicht zielführend stabilisiert werden.1
Bei Menschen mit Doppeldiagnosen (Alkohol-/und Medikamentenabhängige, Polytoxikomane oder Drogenabhängige) ist oft die Sucht ein gescheiterter Bewältigungsversuch einer psychiatrischen Beeinträchtigung, die von den Betroffenen individuell in ihrem Lebensalltag als leidvoll und einschränkend erlebt wird. Dabei treten Abhängigkeitserkrankungen besonders häufig mit Persönlichkeitsstörungen (paranoide, schizoide, antisoziale, emotional instabile, histrionische, abhängige, ängstlich vermeidende und Borderline-Persönlichkeitsstörungen), psychotischen, affektiven und Angststörungen in Wechselwirkung auf.
Das Suchtmittel bietet zunächst Schutz vor Ängsten, inneren Spannungen und Konflikten und übernimmt schließlich in Form des exzessiven Konsums die Aufgabe der autodestruktiven Bewältigung. Durch den ständigen Suchtmittelabusus, durch psychosomatische Störungen und die Vernachlässigung der Gesundheitssorge entstehen in chronischen Verläufen zusätzlich vielfältige gravierende körperliche Schädigungen.
Es handelt sich um einen ausgesprochen heterogenen Personenkreis, der sich u.a. durch unterschiedliche Symptomatik, schlechtere Adhärenz, häufigere Rückfälle, Obdachlosigkeit und einer hoch problematischen sozialen Situation (z.B. Isolation, Finanzen, Hafterfahrungen) kennzeichnet. Es besteht zudem ein höheres Risiko zu aggressivem Verhalten, einschließlich Suizidalität.2
Dies überforderte die Möglichkeiten vieler etablierter Hilfeangebote.
Konfrontativ-fordernde Kommunikationsstile, hochschwellige Zugangsvoraussetzungen (wie z.B. Motivationsnachweise als Aufnahmebedingung) oder starre Regelwerke trugen seitens der Einrichtung dazu bei, dass diese Personengruppe oftmals aus dem Versorgungssystem fiel.3
Erfolgreiche praktische Erfahrungen im Bundesgebiet sowie die Forschung in den letzten 20 Jahren legen nahe, dass Einrichtungen, die mit Menschen mit Doppeldiagnose arbeiten wollen, spezifische Merkmale aufweisen sollten, um diesem Personenkreis gerecht zu werden.
1 Vgl. exemplarisch: Niestrat, F. (2010)
2 Vgl. Gouzoulis-Mayfrank E. (2014).
3 Vgl. Dürsteler-MacFarland, Wiesbeck, G.A. (2014)
Diese spezifischen Merkmale können wie folgt beschrieben werden:
2. Qualitätsmerkmale
- Einbezug aller Erkrankungen im Konzept und in der konkreten Betreuung („Integrative Betreuungskonzepte“)
Sucht und psychische Erkrankung(en) beeinflussen sich in ihren Symptombildern gegenseitig. Dementsprechend ist es erforderlich, das gesamte Symptombild in allen Angeboten der Einrichtung zu berücksichtigen.
Das Team der Einrichtung sollte in den verschiedenen Krankheitsbildern und adäquaten Methoden intensiv geschult sein sowie über eine gemeinsame Haltung zum Konzept und den Personenkreis verfügen. Es wird empfohlen, dass ein Teil des Teams über längere Erfahrung in der Betreuung von Menschen mit Doppeldiagnose verfügt.
Eine auf die Besonderheiten der jeweiligen psychischen Erkrankung abgestimmte bauliche Gestaltung kann den Stabilisierungsprozess zudem unterstützen (z.B. kleine und überschaubare Einheiten mit guten Orientierungsmöglichkeiten und offenen Zugängen, lichtdurchflutete Flure und Räume, stabile und schalldämpfende Bauweise).
- Konzeptionell beschriebene, vulnerable Einstiegsphase
Die zu erwartende erhebliche Instabilität und Ambivalenz des Personenkreises machen eine längere niederschwellige Einstiegsphase, mit an die jeweilig vorliegende motivationale Lage sowie die physischen Beeinträchtigungen des / der Klient*in angepassten Interventionen, erforderlich. Thematisch im Vordergrund stehen u.a. der Abschied vom Substanzkonsum (Konsumfaszination) und die einhergehende Trauerarbeit, Aufbau von Akzeptanz der Erkrankungsschwere, Förderung von Hoffnung sowie eine realistisch-positive Lebensplanung und präventive Maßnahmen in Bezug auf eine wahrscheinliche Substanzrückfälligkeit in der Einrichtung. Die reflektierte stabile Beziehung, sowohl zu Mitarbeitenden als auch zu anderen Betroffenen, ist der wesentliche Wirkfaktor. Benötigt wird ein Setting, in dem die Verschlechterung des Gesundheitszustandes (z.B. in Form von Rückfall oder anderweitigem Symptomanstieg) offen sowie ohne moralische Wertung zur Sprache gebracht werden kann und das sich durch ein Klima der Unterstützung, trotz wiederkehrender Rückschritte, auszeichnet.
- Individualisierung der Angebote innerhalb der Einrichtung
Aufgrund des heterogenen Erscheinungsbildes des Personenkreises greifen ausschließlich standardisierte Angebote (z.B. klassische Psychoedukationsprogramme oder stark standardisierte Angebote zur Tagesstruktur – im Gruppensetting) zu kurz bzw. sind weniger wirksam.
Alle Angebote der Einrichtung, beginnend bei Einzel- und Gruppengesprächen, über Beschäftigungsangebote und Angebote zur Tagesstruktur, bis hin zu Sport- und Freizeitangeboten, bedürfen der individuellen Anpassung (Dauer, Frequenz, Inhalt, Kommunikations- und Interaktionsstil der Fachkräfte) an die jeweilig teilnehmende Personengruppe.4 Dies ist zugegebenermaßen mit Aufwand verbunden.
Die Zusammenstellung des Unterstützungsangebots für den Einzelfall sollte sich dabei sowohl an aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen, als auch am Erfahrungswissen aus erprobten Einrichtungen orientieren und in ihrer Wirkung (anhand der individuell vereinbarten Teilhabeziele) evaluiert werden
. - Interprofessionalität
Menschen mit Doppeldiagnose weisen eine Vielzahl an gesundheitlichen, sozialen und beruflichen Problemlagen auf. Dementsprechend bedarf es in der Betreuung, neben einer individualisierten Angebotsstruktur, auch der Kompetenz unterschiedlicher Berufsgruppen.
Über das Konzept eines multiprofessionellen Teams hinausgehend erfordert der Personenkreis ein eng zusammenarbeitendes, sich fachlich ergänzendes und aufeinander abgestimmtes, flexibel auf die täglich wechselnden Anforderungen reagierendes Team, in dem die jeweils für eine Aufgabe am besten qualifizierte Fachkraft federführend tätig wird. Entscheidungen werden gemeinsam entwickelt, die Hierarchien arbeiten auf Augenhöhe in einem Dialog miteinander. Bestimmte definierte Aufgaben werden gemeinsam erbracht. (Interprofessionalität).5
Der Aufbau und die Aufrechterhaltung eines derartigen Teams setzt Unterstützung und Förderung durch den Träger sowie die Leitung voraus, u.a. durch stetige Schulung der gemeinsamen Haltung, durch Intervision und Supervision.
- Fachärztliche Behandlung und Medikation
Eine grundlegende gesundheitliche Stabilisierung sowie die Fähigkeit zur Teilnahme am Angebot sind in der Regel bei Menschen mit Doppeldiagnose sehr häufig nur mit medikamentöser Unterstützung zu erreichen.
Da Einrichtungen der Eingliederungshilfe die / den Fachärzt*in nicht im Team integriert haben (Geltungsbereich des SGB XII), sollte eine ärztliche Versorgung über schriftlich fixierte Kooperationen mit niedergelassenen Fachärzt*innen sichergestellt werden.
Optimalerweise finden in diesem Zusammenhang auch Sprechstunden bzw. Konsiliardienste vor Ort in der Einrichtung sowie Teamberatung statt.
Die Einrichtung unterstützt die / den Klient*in bei einer reflektierten und möglichst selbstbestimmten Medikationseinnahme, z.B. durch das Vorhalten von Informationsveranstaltungen sowie das Angebot von diesbezüglichen Trainingsprogrammen. Sie geht allerdings auch auf die Idealisierung der medikamentösen Wirkung6 ein und bietet das Erlernen von Alternativen zur Selbststeuerung an.
- Vernetzung in einem regionalen Einrichtungsverbund
Aufgrund phasischer Erkrankungsverläufe ändert sich der Betreuungsaufwand im Verlauf immer wieder. Das klassische Konzept der „Therapiekette“, unter Annahme eines linear verlaufenden Stabilisierungsprozesses, beginnend mit der Entgiftung bis hin zu einem einzelbetreuten ambulanten Wohnen, wird dem nicht gerecht. Vor allem die vorübergehende Rückkehr in intensiver betreute Maßnahmen, bei Erhalt der Betreuungskontinuität, ist erschwert.
Die Einrichtung sollte eng mit geeigneten regionalen Angeboten vernetzt sein, sowohl in Bezug auf Aufnahmemodalitäten, als auch in Bezug auf die Abstimmung der Konzepte. Einrichtungsübergreifende Hilfeplanungen in den Übergangsphasen sowie die Festlegung eines federführenden Casemanagements stellen die erforderliche Kontinuität von helfender Beziehung, den Zielen und der Maßnahmen sicher.
- Enge Kooperation mit der Akutklinik, Rettungsdiensten und Polizei
Menschen mit Doppeldiagnose werden häufiger rückfällig, wobei die Rückfallverläufe einen höheren Schweregrad aufweisen. Auch Suizidalität und Gewalthandlungen sind aufmerksam zu beachten. Für Krisensituationen bedarf es neben einer intensiven und jährlichen Schulung des Teams auch einer engen, vorab verhandelten Kooperation mit den Rettungsdiensten, der Polizei und der (optimalerweise auf Doppeldiagosen spezialisierten) Akutklinik. Regelmäßige Kooperationstreffen mit Fallbesprechung verbessern reibungsfreiere Abläufe und die Verbindlichkeit zu den Vereinbarungen.
4 Vgl. Sadowski, H.; Niestrat, F. (2006)
5 Vgl. Förderprogramm Interprofessionalität im Gesundheitswesen 2017-2020. (2017). Hrsg. Bundesamt für Gesundheit BAG, Schweiz.
6 Vgl. zur aktuellen Diskussion des Neuroleptikaeinsatzes: exemplarisch Aderhold, V. (12/2014).
Fazit
Menschen, die an einer Abhängigkeitserkrankung und einer psychischen Erkrankung (Doppeldiagnose) leiden, benötigen differenzierte Unterstützungsangebote mit einer konzeptionell hinterlegten Spezialisierung auf den Bedarf des Personenkreises. Diese zeichnen sich v.a. durch den Einbezug aller psychischen Erkrankungen, flexible und individualisierte Betreuungskonzepte, die gezielte Schulung des Personals einschließlich der Etablierung gemeinsamer Haltungen und eine enge Vernetzung aller am Unterstützungsprozess Beteiligten (auch über Einrichtungsgrenzen hinaus) aus.
Der GVS fordert vor dem Hintergrund dieses Papiers, den Bedürfnissen der Betroffenen aus sozial- und gesundheitspolitischer Sicht gerecht zu werden und deshalb, neben einer adäquaten personellen und räumlichen Ausstattung, v.a. die längst überfällige Überwindung des sequentiellen, fragmentierten Sozial- und Gesundheitssystems.
Berlin, im März 2019
Gesamtverband für Suchthilfe e.V. – Fachverband der Diakonie Deutschland
Das Papier wurde von folgenden Mitgliedern des GVS Fachausschusses Teilhabehilfe erarbeitet:
Alexander Haußner (Stadtmission Nürnberg – Nachsorge, Nürnberg), Astrid Horny (Hephata Hessisches Diakoniezentrum e.V., Breitenbach a. H.), Ralf Klinghammer (Hoffnungstaler Stiftung Lobetal, Bernau), Michaela Landgrebe (bis 2018 Hephata Hessisches Diakoniezentrum e.V., Klingenberg a. M.), Corinna Mäder-Linke (Gesamtverband für Suchthilfe e.V. – Fachverband der Diakonie Deutschland, Berlin), Ute Ploghaus (v. Bodelschwingsche Stiftung Bethel, Bielefeld), Thomas Reichert (Blaukreuz-Haus Bad Salzuflen, Bad Salzuflen), Wolfgang Schuppert (Diakonie Herzogsägmühle gGmbh, Peiting- Herzogsägmühle), Sabine Wetzel – Kluge (Diakonisches Werk Ev. Kirchen in Mitteldeutschland e.V.), Silke Willer (Diakonisches Werk Schleswig-Holstein, Rendsburg)
Unter Mitwirkung von:
Harald Sadowski (Markus-Haus Essen, Essen) und Frieder Niestrat (Markus-Haus Essen, Essen)
Literatur
- Aderhold, Volkmar. (12/2014). Neuroleptika minimal – warum und wie. Institut für Sozialpsychiatrie der Universität Greifswald.
- Bundesamt für Gesundheit BAG (Schweiz). (2017). Förderprogramm Interprofessionalität im Gesundheitswesen. 2017- 2020. www.bag.admin.ch/fprinterprof (Stand 03/2017).
- Dürsteler-MacFarland K., Wiesbeck, G.A.. (2014). Therapeutische Grundprinzipien bei Doppeldiagnosen. In: Walter M.; Gouzoulis-Mayfrank E. (Hrsg.). (2014). Psychische Störungen und Suchterkrankungen. Diagnostik und Behandlung von Doppeldiagnosen. Verlag W. Kohlhammer.
- Gouzoulis-Mayfrank E. (2014). Psychotische Störungen und komorbide Suchterkrankungen. In: Walter M.; Gouzoulis-Mayfrank E. (Hrsg.). (2014). Psychische Störungen und Suchterkrankungen. Diagnostik und Behandlung von Doppeldiagnosen. Verlag W. Kohlhammer.
- Niestrat. F. (2010). Doppeldiagnose Psychose und Sucht. Von Systemen, die sprengen, zu Menschen, die leiden, kämpfen und vorankommen. In: Sadowski, H.; Niestrat, F. (Hg.). (2010). Psychose und Sucht. Behandlung und Rehabilitation. Psychiatrie Verlag.
- Sadowski, H.; Niestrat, F. (2006). Psychisch krank und suchtkrank. Kerbe 1/2006.