Von der Doppeldiagnose zur integrierten Diagnose
Die medizinischen Fachleute fassen die Befunde, die sie bei Patienten beobachten, in Diagnosen zusammen. Dabei wird das Kontinuum in Kategorien eingeteilt. Das bedeutet schliesslich, dass im Einzelfall die Diagnose nur eine Annäherung an die Situation der Betroffenen darstellt. Somit wird man dem betroffenen Individuum nicht gerecht. Die Diagnosen sind jedoch wichtig für den Austausch unter Fachleuten und für statistische Zwecke. Sie können einer Bedarfsplanung dienen.
1893 wurde eine internationale Liste der Klassifikation der Todesursachen eingeführt. Erst 1949 wandelte sie sich mit der 6. Revision in eine Klassifikation der Erkrankungen. Die sog. «International Classification of Diseases (ICD-6)» wurde von der 1948 gegründeten Weltgesundheitsorganisation WHO erarbeitet. In dieser ICD-6 gibt es das Unterkapitel «Störungen des Charakters, des Verhaltens und der Intelligenz». Hier findet man die Codices «322 Alkoholismus» und «323 andere Drogensucht». Die Substanzabhängigkeiten erhalten damit den Status als Krankheiten. Interessant ist, dass sie im gleichen Unterkapitel geführt werden wie die Störungen des Charakters und des Verhaltens. In der ICD-8, der 8. Revision der Klassifikation von 1965, wandelte sich das entsprechende Unterkapitel zum Unterkapitel «neurotische Störungen, Persönlichkeitsstörungen (Psychopathien) und andere nichtpsychotische psychische Störungen». Zudem wurde der Begriff «Sucht» durch «Abhängigkeit» ersetzt. Erneut wurde damit die Nähe der Abhängigkeitserkrankungen zu anderen psychischen Störungen dargestellt.
Dass eine Beziehung zwischen extensivem Substanzkonsum und anderen psychischen Störungen besteht, war schon im Altertum diskutiert worden. So schreibt Platon: «Ein tyrannischer Mann, also sprach ich, du Göttlicher, entsteht genau genommen, wenn einer vermöge seiner Natur oder durch seine Führung oder durch beides ein Trunkenbold geworden ist oder ein Wollüstling oder ein Schwarzgalliger.» (Platon: Politeia, ca. 350 v. Chr.). Hier findet sich im Grunde genommen alles, was auch heute noch in der modernen Psychiatrie diskutiert wird. Die von Platon angesprochene «Natur» entspricht in einer heutigen Terminologie der Genetik und die «Führung» der Epigenetik, die zu einem Alkoholismus führen. Ein gleicher Mechanismus postuliert er für die «Schwarzgalligkeit», die nach heutiger Bezeichnung eine «Depression» ist.
Erst mit der 10. Revision, der ICD-10 von 1990, erhielten die Abhängigkeitserkrankungen ein eigenes Unterkapitel «Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen». Die Grundidee war, dass man theoriefrei Symptome zu einer Kategorie zusammenfassen wollte. Dieses Vorgehen ist bei Substanzen relativ einfach. Das Abhängigkeitssyndrom wird durch DIMDI folgendermassen beschrieben: «Typischerweise besteht ein starker Wunsch, die Substanz einzunehmen, Schwierigkeiten, den Konsum zu kontrollieren, und anhaltender Substanzgebrauch trotz schädlicher Folgen. Dem Substanzgebrauch wird Vorrang vor anderen Aktivitäten und Verpflichtungen gegeben. Es entwickelt sich eine Toleranzerhöhung und manchmal ein körperliches Entzugssyndrom.» (www.dimdi.de). Auch wenn keine Theorie zur Entstehung und zur Einordnung der Symptome in einen weiteren Kontext dargestellt wird, findet sich hier jedoch eine Theorie, was ein vernünftiger Mensch zu tun hat. Er müsste auf Substanzkonsum verzichten und sollte sich um andere Aktivitäten kümmern. Verpflichtungen erfüllt er wegen seinem Wunsch, Substanzen zu konsumieren nicht mehr.
Heute wissen wir, dass diese Definitionen zu kurz greifen. Viele der Patienten mit einem Opioidabhängigkeitssyndrom führen unter Methadon, L-Polamidon, Morphin, Buprenorphin oder sogar Diaphin (pharmazeutisches Heroin) unter stabilen Dosierungen ein normales Leben, bei dem sie ihren gesellschaftlichen und familiären Verpflichtungen nachkommen und Hobbies pflegen.
Mit der Darstellung in der ICD-10 wurde Abhängigkeit als eigenständige Krankheit definiert. Dies hat durchaus positive Aspekte, indem dem Substanzkonsum nicht einfach nur schwacher Wille oder mangelnde Moral zugrunde liegt. Der Nachteil ist, dass Stigmatisierung noch einfacher geworden ist. «Der oder diese hat nur eine Sucht!» Untersuchungen zeigen, dass Patienten, die unter einer «Suchtdiagnose» laufen, in den Spitälern im Schnitt schlechter behandelt werden.
Die Diagnose eines Abhängigkeitssyndroms darf nach ICD-10 nur gestellt werden, wenn die Symptome in den letzten 12 Monaten vor der Untersuchung bestanden haben. Ein «Status nach Sucht», wie man in Arztberichten und Krankengeschichten oft findet, hat in einer Diagnoseliste nichts zu suchen und ist schlicht diskriminierend und stigmatisierend.
Mit der Darstellung als eigenständige Erkrankung wurde das Abhängigkeitssyndrom kausal als Folge von Substanzen bezeichnet. Andere Ursachen sind in der ICD-10 nicht vorgesehen. Die klinische Erfahrung zeigt aber, dass Abhängigkeitssyndrome mit einer Vielzahl von anderen Erkrankungen oder schwerwiegenden Erlebnissen verbunden sind. Teilweise sind diese als kausale Ursache eines Abhängigkeitssyndroms anzusehen.
Diese Beobachtungen führten zur Entwicklung des Konzepts der «Doppeldiagnose». Diese ist definiert als gleichzeitiges Auftreten eines Abhängigkeitssyndroms und einer weiteren psychiatrischen Diagnose. Es wird argumentiert, dass die Diagnose des Abhängigkeitssyndroms vor oder nach oder gleichzeitig mit der anderen psychiatrischen Diagnose auftreten kann. Über die Verknüpfung der beiden Diagnosen ist damit noch nichts gesagt. Es werden aber grundsätzlich drei Modelle diskutiert.
- Im unidirektionalen direkten Kausalmodell bewirkt Störung 1 die Störung 2. Entweder erzeugt die Substanzstörung die psychische Störung oder umgekehrt die psychische Störung hat eine Substanzstörung zur Folge. Ein Beispiel für Ersteres wäre eine Abhängigkeit die zu einer Depression führt, ein Beispiel für Zweiteres wäre die Selbstmedikation mit einer Substanz, um die Symptome einer chronisch verlaufenden psychischen Störung zu lindern.
- Im bidirektionalen Kausalmodell schaukeln sich die beiden Störungen im Verlaufe der Zeit gegenseitig auf.
- In diesem Modell geht man von gemeinsamen ätiologischen Faktoren aus. Ein Beispiel dafür sind die Jugendlichen, die in frühem Alter beginnen, große Mengen Cannabis zu rauchen und die dann Schizophrenien entwickeln. Die gemeinsame genetische Grundlage ist das gesteigerte Bedürfnis, sich mit Cannabis zu intoxikieren und eine Vulnerabilität für Schizophrenie.
Die oben erwähnte Selbstmedikationshypothese greift letztlich zu kurz, da psychoaktive Substanzen nicht nur therapeutische Wirkungen haben, ihre Einnahme ist grundsätzlich auch mit positivem Erleben verbunden. Ein einleuchtendes Modell, wie sich lustvolle und heilende Wirkung zueinander verhalten, hat der Sigmund Freud Schüler Sandor Rado schon 1926 entwickelt. In seinem Artikel zu den «psychischen Wirkungen der Rauschgifte» stellt er die Beziehungen von «Ich» und «Es» zueinander dar. So dienen die Substanzen dem Schutz des «Ichs», letztlich aber zum Preis der Regentschaft des «Es».

Rado S. Die psychischen Wirkungen der Rauschgifte. Versuch einer psychoanalytischen Theorie der Süchte. Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 1926; 12: 540-56
Sigmund Freud beschreibt in der «Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse» das Es als Chaos, Kessel voll brodelnder Erregung. Es habe keine Organisation und diene einzig der Befriedigung der Triebbedürfnisse. Die Logik werde ausgeschaltet, Widersprüche, Raum, Zeit und Moral werden dabei aufgehoben.
Die Beschreibung des Es durch Sigmund Freud beschreibt sehr illustrativ den Zustand der Intoxikation mit Substanzen. Entsprechend ist gut ersichtlich, dass die Dinge, die das Ich schwächen deutlich in den Hintergrund treten. Diese sind nur unter genauer Beobachtung erfassbar (Simmel E. Alcoholism and Addiction. The Psychoanalytic Quarterly. 1948; 17: 6-31). Eine Abhängigkeitsstörung kann so Teil von unterschiedlichen Symptommustern sein, die dann Teil von unterschiedlichen Erkrankungen sein können. Entsprechend wären Abhängigkeitssyndrome keine eigenständigen Störungen.
In neuerer Zeit wurde die Idee, dass Abhängigkeitsstörungen keine eigenständigen Erkrankungen seien, von Nitzgen wieder aufgenommen. Er kommt zum Schluss, «dass Sucht selbst Symptomcharakter hat. Mit Blick auf die Diagnostik gilt daher, dass Suchtentwicklung und Persönlichkeitsstruktur letztlich untrennbar sind und demzufolge auch diagnostisch nur auf Kosten der klinischen Komplexität voneinander getrennt werden können.» (Nitzgen D. Psychoanalytische und psychiatrische Perspektiven einer Klassifikation der Suchterkrankungen unter besonderer Berücksichtigung der Frage der Komorbidität. In: Bilitza KW, Hrsg. Psychotherapie der Sucht. Psychoanalytische Beiträge zur Praxis. Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co., Göttingen, 2008; 31-50).
Entsprechend wäre dringend eine Verbesserung der Diagnostik von Nöten, um die Zusammenhänge in den betroffenen Individuen zu erfassen und um eine personalisierte Therapie anzubieten. Eine psychodynamische Diagnosestellung, die diesen Anforderungen gerecht würde, könnte nach dem OPD-System (Operationalisierte psychodynamische Diagnosestellung) erfolgen. Entsprechend der komplexen zu erfassenden Materie ist die Anwendung kompliziert. Eine Abhängigkeit findet nie im luftleeren Raum statt, sondern in einem System und einer Umwelt. Eine erste Annäherung an die Problematik kann erzielt werden, wenn folgende Fragen beantwortet werden: Welche Substanz wird: wann, von wem, wie, wie oft, wo, in welcher Dosierung, zusammen mit wem, warum, mit welcher Einstellung und mit welcher Erfahrung konsumiert? So wird letztlich die Abhängigkeitssyndrom kontextualisiert, systemisch verortet und wird Teil einer integrierten Diagnose.

Dr. med. Robert Hämmig
Facharzt Psychiatrie & Psychotherapie FMH
Spez. Abhängigkeitserkrankungen
Tel.: +41 31 380 84 68
E-Mail: robert.haemmig(at)hin.ch