Das BTHG und seine Herausforderungen – die Leistungserbringer der Suchthilfe auf dem Weg in eine komplexere Welt
Auch wenn es selbst in der Fachöffentlichkeit teilweise nicht bekannt zu sein scheint, ist die Suchtkrankenhilfe ein wichtiger Tätigkeitsbereich der Eingliederungshilfe. Als solcher Tätigkeitsbereich ist auch sie von den zahlreichen Veränderungen betroffen, die das Bundesteilhabegesetz (BTHG) mit sich bringt. Dabei bedeutet das BTHG nicht weniger als einen vollständigen Paradigmenwechsel: Im Grunde müssen sich die Leistungserbringer in Teilen neu „erfinden“. Dies gilt insbesondere für die Anbieter stationärer Wohnformen. Gefordert sind u.a. die Entwicklung einer (neuen) unternehmerischen Vision, eines neuen fachlich-konzeptionellen Leitbilds und neuer Angebotsformen (inkl. deren Planung und Steuerung).
Trotz jahrelangem Vorlauf bis zum Inkrafttreten des BTHG seit dem 01.01.2017 (in mehreren Reformstufen bis zum 01.01.2023) hat das neue Gesetz viele Unsicherheiten mit sich gebracht. Zwar ist zum einen zu konstatieren, dass der Gesetzgeber mit seiner schrittweisen Novellierung der Sozialgesetzgebung eine Art Masterplan verfolgt, der u.a. vorsieht, die Zuordnung einzelner Zielgruppen zu den jeweiligen Gesetzesbüchern zu bereinigen. Zum anderen lassen sich trotz vieler Unklarheiten die Leitgedanken des BTHG klar benennen:
- Personenzentrierung als Leitprinzip
- Ambulantisierung
- Modularisierung
- Wirkungscontrolling (hier nicht weiter betrachtet).
Gleichwohl war insbesondere in der ersten Zeit nach der Einführung für viele Leistungserbringer (und die meisten Leistungsträger) nicht genau klar, was konkret in der praktischen Umsetzung zu tun ist.
1. Wegstück: Aufräumen und Schaffung der notwendigen Voraussetzungen
In dieser ersten Phase haben sich zahlreiche Träger daran gemacht, solche Themen anzugehen, die im Grunde auch schon vor dem BTHG als „Baustellen“ zu identifizieren waren. Dazu zählen u.a. die kritische Prüfung der eigenen Organisation und die Bereinigung bestehender Leitungsstrukturen – weg von kleinsten Wohnbereichen, hin zu Einrichtungs- oder sogar standortübergreifend verantwortlichen Leitungen. Daneben galt und gilt es zu überprüfen, inwieweit das heutige Konzept stringent umgesetzt ist. Dies betrifft zum einen die Frage, ob die richtigen Klient*innen in den richtigen Wohn-/ Betreuungsformen versorgt sind. Zum anderen ist zu prüfen, wie das tägliche Leistungsgeschehen organisiert ist: Wann finden welche Angebote/ Arbeiten statt?
Welche Auswirkungen hat dies auf die Personalbemessung? Ist sichergestellt, dass pädagogischen Fachkräfte nur dort zum Einsatz kommen, wo sie auch wirklich benötigt werden?
Durch die Beschäftigung mit diesen Fragen und die damit einhergehende Reflexion der eigenen Arbeit kommt viel mehr Klarheit und Transparenz in das zuweilen bislang doch arg intransparente System der Eingliederungshilfe. Überdies kommen auch bei den Beschäftigten Veränderungsprozesse in Gang, die für das notwendige Change Management unerlässlich sind. Und schließlich bringt insbesondere die Frage nach der Umsetzung des Konzepts im täglichen Leistungsgeschehen die Folgefrage auf, wie das Leistungsgeschehen denn zukünftig aussieht. Dabei war bereits relativ früh absehbar, dass aufgrund der intendierten Trennung von Fach- und Assistenzleistung die zukünftige Leistungserbringung deutlich komplexer wird. Aber dazu später mehr.
2. Wegstück: Prüfung neuer strategischer Optionen
Trotz aller Unwägbarkeiten, war im Rahmen der BTHG-Umsetzung recht früh klar, dass sich an der Schnittstelle Eingliederungshilfe und Pflege eine interessante strategische Option auftut: der Einstieg von Leistungserbringern der ambulanten Eingliederungshilfe in die Ambulante Pflege und die damit verbundene Möglichkeit, bestehende Pflegebudgets aus SGB V und XI komplett abzurechnen.
Viele sozialwirtschaftliche Organisationen haben sich aufgemacht, ein solches Angebot zu schaffen – sei es durch den vollständigen Neuaufbau oder durch Übernahme eines bestehenden Dienstes. Allerdings gestaltet sich dieser Weg durchaus steinig, da es sowohl schwer ist, geeignete Übernahmekandidaten zu finden, als auch das notwendige (Fach-) Personal. Insbesondere die adäquate Besetzung der Pflegedienstleitung ist ein entscheidender Faktor für den zukünftigen Erfolg des Dienstes, insbesondere für tarifgebundene Träger.
Weitere strategische Optionen aus dem BTHG, die hier aber nicht näher ausgeführt werden, sind ein Einstieg in die Angebote zur Teilhabe an Arbeit als sog. „Anderer Anbieter“ oder der Auf- oder Ausbau von Assistenzleistungen.
3. Wegstück: Trennung von Fachleistungen und existenzsichernden Leistungen
Spätestens ab Mitte 2018 war klar, dass die im Gesetz vorgesehene Trennung von Fachleistung und existenzsichernden Leistungen zum 01.01.2020 definitiv kommt vor allem einen ziemlich langen Vorlauf für die Vorbereitung benötigt.
Die Vorbereitung brachte zwei Arbeitsschwerpunkte mit sich, die sich auch den o.g. zu schaffenden Voraussetzungen zuordnen lassen: das Aufmaß sämtlicher Flächen sowie die Weiterentwicklung der Kostenrechnung. Während das Flächenaufmaß die Vorarbeit für die zu leistende Aufteilung in Wohn-, Fachleistungs- und Mischflächen darstellt, dient die nur im Bedarfsfall zu leistende Weiterentwicklung der Kostenrechnung der adäquaten Kostenzuordnung. Nur wenn sich die Kosten den Flächen richtig zuordnen lassen, können die notwendigen Verträge mit den Klient*innen geschlossen werden, damit diese wiederum ihre Sozialhilfeanträge auf den Weg bringen können. Dem Vertragsmanagement und der frühzeitigen Information und Einbindung der gesetzlichen Betreuer*innen sind daher auch gesteigerte Aufmerksamkeit zu widmen.
4. Wegstück: Vorbereitung von Entgeltverhandlungen
Während das letzte und auch das laufende Jahr von den zuvor beschriebenen Schritten geprägt waren, lässt sich in den meisten Bundesländern aktuell eine Phase der relativen Ruhe beobachten. Solange zur neuen Flächenaufteilung noch keine Bescheide vorliegen und das neue Leistungsmodell in der Umsetzung noch nicht vollständig absehbar sind (siehe folgenden Punkt), ist zunächst Warten angesagt. Die beschriebenen vorbereitenden Arbeiten sowie das notwendige Change Management laufen natürlich weiter.
Daneben haben sich einige sozialwirtschaftliche Unternehmen auf den Weg gemacht Entgeltverhandlungen vorzubereiten. Zwar kann aktuell zu den neuen Konditionen i.d.R. noch nicht verhandelt werden und es lässt sich nicht sagen, ob es besser ist früh zu verhandeln oder lieber abzuwarten, aber auch hier können vorbereitende Arbeiten angegangen werden. Dies zwingt nämlich erneut zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Konzept: Welche Klient*innen sollen zukünftig in welcher Form betreut werden? Wie passt das bestehende Konzept zu den neuen Überlegungen? Passt der heutige Personalbestand in quantitativer (Anzahl) und qualitativer (Qualifikation) Hinsicht? Zudem ergeben sich erneut konkrete Anforderungen an die Kostenrechnung. Passt die heute vorhandene Aufschlüsselung der Kosten zu den Anforderungen aus den Entgeltverhandlungen?
Die Zeit kann also gut genutzt werden, um sich auch hier gut aufstellen und ggf. mit einem gewissen „Vorsprung“ in die Verhandlungen zu gehen.
5. Wegstück: Ausblick auf eine komplexe(re) Welt
Auch wenn in einigen Bundesländern noch längere Übergangsfristen vereinbart wurden, ist schon heute relativ klar, was in den meisten Bundesländern auf die Leistungserbringer zukommen wird: die Modularisierung der Leistungen aufgrund der intendierten Personenzentrierung im Bereich der stationären Eingliederungshilfe. Damit einher geht eine zunehmende „Ambulantisierung des Stationären“, vor allem im Bereich der Personalsteuerung. Exemplarisch lässt sich dies am Beispiel des in Nordrhein-Westfalen im neuen Landesrahmenvertrag vereinbarten neuen Leistungsmodells "Soziale Teilhabe" verdeutlichen.
Neben den Standardpauschalen für Sachkosten und Overhead (sog. „Organisationsmodul“) wird es zum einen das sog. „Fachmodul“ u.a. zur Abdeckung der laufenden Tag- und Nachtpräsenz in den Einrichtungen sowie jeweils zeitbasierte Leistungsmodule für Allgemeine und Qualifizierte Assistenz geben. Daraus ergeben sich diverse Herausforderungen für die Planung und Steuerung der Leistungen und des Personals. Während die Leistungen im Fachmodul Wohnen auch weiterhin stationären Charakter haben, wenn auch mit deutlich weniger Personalressourcen, was wiederum deutliche Implikationen in Richtung Dienstplanung und Ausfallmanagement mit sich bringt, werden die beiden Arten von Assistenzleistungen vermutlich eher dem System von Fachleistungsstunden aus dem Ambulant Betreuten Wohnen ähneln und auch so – nämlich ambulant – zu steuern sein.
Alles in allem wird die Leistungserbringung somit deutlich kleinteiliger, insbesondere wenn man auch noch die zu erbringenden hauswirtschaftlichen und pflegerischen Leistungen in den Blick nimmt. Der dadurch entstehenden Komplexität gilt es Herr zu werden – idealerweise durch eine adäquate Softwareunterstützung.
Fazit
Auch wenn es für die sozialwirtschaftlichen Unternehmen, die in der Eingliederungshilfe tätig sind, aktuell eine große Herausforderung ist, die ganzen Veränderungen adäquat zu bewältigen, ist festzuhalten, dass eine umfassende Reform der Eingliederungshilfe dringend notwendig war – wenn auch nicht in diesem Umfang.
Das alte System der Pauschalvergütung war jedoch in weiten Teilen so intransparent und so wenig geeignet, die Leistungserbringung und den Personaleinsatz zu steuern, dass es nicht mehr zukunftsfähig war. Das neue System bringt dagegen eine ungeahnte Komplexität mit sich, die – wenn man das Konzept der Personenzentrierung ernst nimmt – fast unumgänglich ist. Konkrete Hilfe- und Unterstützungsbedarf von Menschen sind in der Regel eher kleinteilig und daher ebenso kleinteilig zu planen und zu steuern. Gleichwohl muss die Leistungserbringung händelbar und für Leistungserbringer und Leistungsempfänger*innen überschaubar bleiben, sonst führt die damit einhergehende Komplexität wiederum zu Intransparenz im System.
Für die Leistungserbringer der Suchtkrankenhilfe bleibt abzuwarten, inwieweit alle Veränderungen in vollem Umfang auch auf die zutreffen. Insbesondere bei über einen längeren Zeitraum oder dauerhaft in stationären Wohnformen untergebrachte Klient*innen werden die anstehenden Teilhabe- bzw. Gesamtplanverfahren zeigen, ob die Leistungserbringung zukünftig tatsächlich so kleinteilig wird, wie dies bei anderen Zielgruppen zu erwarten ist, da die Entwicklungsperspektive i.d.R. eine andere ist.

Carsten Effert (Diplom-Sozialarbeiter (FH)/ Diplom-Sozialpädagoge (FH), Diplom-Ökonom)
Seniorberater / Projektleiter
rosenbaum nagy unternehmensberatung GmbH
Geschäftsbereichsleitung Eingliederungshilfe
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