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Von Friederike Hellinger

Das Bundesteilhabegesetz im Fokus der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB)

Es ist Juni 2018. Ich sitze in Wismar im Zug. Mein Ziel ist die erste bundesweite Fachtagung der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung in Berlin. Nach und nach steigen Fahrgäste ein. Ein Mann sagt freundlich guten Morgen und setzt sich mir gegenüber. Er sieht etwas mitgenommen aus, hat einen Rucksack mit auffälligen Gebrauchsspuren dabei sowie eine Bierflasche. Höflich fragt er mich, ob ich schon immer im Rollstuhl sitze. Ich erzähle ihm, dass ich wegen einer Muskelerkrankung nie gelernt habe zu laufen, aber mir mein Rollstuhl viel Mobilität ermöglicht. Der Mann antwortet: „Oh, mit mir stimmt auch was nicht. Habe viel Misst gebaut … Drogen und so … aber ich möchte clean werden … ein normales Leben führen und Verantwortung übernehmen. Das ist für mich noch ein schwerer Weg. Heute will ich meine Kinder sehen … betreuter Umgang. Ich hoffe das schaffe ich pünktlich.“ Ich höre zu und wünsche ihm, dass er seine Kinder heute treffen kann. Der Mann spricht weiter: „Bitte sagen Sie mir, wenn ich zu viel labere, aber so vergeht die Zeit für mich einfacher. Wahrscheinlich muss ich die Zugfahrt unterbrechen. Keine Ahnung ob ich das so lange durchhalte. Ich hatte die ganze Nacht nichts … wegen der Kinder.“ Er erzählt von seinen Plänen einen Entzug durchzustehen und direkt im Anschluss für eine längere Zeit in eine Einrichtung gehen zu wollen, wo man ihm helfen kann clean zu bleiben. Er möchte wieder arbeiten, am liebsten mit Tieren. Er habe von Einrichtungen gehört, die Tiere haben und fragt, ob ich so eine Einrichtung kenne. Ich schreibe ihm eine Adresse von einer therapeutischen Einrichtung auf und gebe sie ihm. Sehr dankbar nimmt er den Zettel entgegen und sucht ganz aufgeregt nach einem sicheren Fach in seinem Rucksack. Immer wieder betont er, dass er diese Adresse nicht verlieren möchte. Bevor ich Berlin erreiche, verlässt er den Zug. Noch lange muss ich über diese Begegnung nachdenken. Menschen mit Suchterkrankungen können auch in unsere Teilhabeberatung kommen.

Die EUTB ist ein Beratungsangebot für alle Menschen mit psychischen, körperlichen und kognitiven Beeinträchtigungen sowie für ihre Angehörigen.

Als Lotsen im System beraten wir unabhängig von Kostenträgern und Leistungserbringern zu allen Teilhabefragen. Dabei hat die Beratung von Betroffenen für Betroffene (Peer Counseling) eine besondere Bedeutung. Der Mann im Zug hat sich vermutlich mich als Gesprächspartnerin ausgesucht, weil er Parallelen in seiner und meiner Person sah. Ich habe zwar keine Suchterkrankung, bin aber offensichtlich aufgrund meiner Erkrankung abgängig von Hilfen und Hilfsmitteln. Es passiert mir auch außerhalb meines beruflichen Kontextes häufig, dass mir fremde Personen in öffentlichen Verkehrsmitteln, Wartezimmern, Einkaufsläden … ihre Lebenssituation anvertrauen. Dieser Gedanke wird im Rahmen der EUTB durch die Peer-Counseling-Methode aufgegriffen. Die Beratungsmethode orientiert sich an den Bedürfnissen der Ratsuchenden und bezieht die psychosoziale Situation in die Beratung ein, um gemeinsam mit dem Ratsuchenden Lösungswege zu entwickeln, die zu ihrem individuellen Lebenskonzept passen. Dabei soll die Selbstbestimmung des Ratsuchenden gestärkt werden.

Die Mitwirkungsrechte von Menschen mit Beeinträchtigungen sind für den Erfolg von Rehabilitation und Teilhabe ausschlaggebend.

Die Partizipation von Menschen mit Behinderung soll für ihre unabhängige Lebensführung unterstützt werden. Mit diesem Ziel fördert das Bundesministerium für Arbeit und Soziales die EUTB. Das ergänzende Beratungsangebot ist niederschwellig und ergänzend zu den bisher bestehenden Beratungsangeboten. Ein Ergebnis des BTHG sind über 500 EUTB-Stellen bundesweit, die Menschen mit Teilhabebeeinträchtigungen bei der Umsetzung ihrer Selbstbestimmungsrechte unterstützen.

Inzwischen kann ich aus 18 Monaten Teilhabeberatungserfahrungen berichten. Die EUTB wird in unserem Landkreis gut angenommen, was den Bedarf des Angebotes verdeutlicht. Beratungsthemen sind z.B. Alltagsbewältigung mit chronischer Erkrankung und Behinderung, Elternschaft mit Behinderung, Hilfen für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen, Hilfsmittel, Kfz-Hilfe, Rehabilitationsmaßnahmen, Teilhabe am Arbeitsleben, das Persönliches Budget, selbstbestimmtes Wohnen, Freizeit und Mobilität. Die Teilhabebedarfe sind vielfältig. Oft sind Ratsuchende aufgrund von körperlichen, psychischen oder kognitiven Beeinträchtigungen seit langer Zeit beeinträchtigt.  Sie betonen, wie froh sie sind, jetzt zu wissen, wo sie sich beraten lassen können. Wenn sich Ratsuchende entscheiden Hilfen zu beantragen, unterstützt die EUTB bei der Suche nach geeigneten Leistungsanbietern sowie im Antragsverfahren. In diesem Zusammenhang bin ich als Teilhabeberaterin bereits an mehreren Gesamtplanverfahren beteiligt gewesen.

Ziel des Gesamtplanverfahrens ist die Ermittlung des individuellen Bedarfs für passgenaue Hilfen.

Das Gesamtplanverfahren gleicht in vielen Regelungen dem Teilhabeplanverfahren. Der Träger der Eingliederungshilfe muss in jedem Fall einen Gesamtplan erstellen, unabhängig davon, ob es um eine oder mehrere Leistungen geht, während ein Teilhabeplan nur erstellt werden muss, wenn Leistungen verschiedener Leistungsgruppen oder mehrere Reha-Träger erforderlich sind bzw. auf Wunsch des Leistungsberechtigen. Ziel des Gesamtplanverfahrens ist die Ermittlung des individuellen Bedarfs für passgenaue Hilfen. Für ein effektives Gesamtplanverfahren sollen alle Reha-Träger ein geeignetes Instrument zur Bedarfsermittlung nutzen. In Mecklenburg-Vorpommern wird der Integrierte Teilhabeplan (ITP) M-V eingesetzt. Der ITP ist ein Bedarfsermittlungsinstrument, welches im Dialog mit dem Leistungsberechtigten erarbeitet wird. Jeder kann nachvollziehen, dass eine personenzentrierte Gesamtplanung Zeit braucht und eine vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre voraussetzt. Oft sind sogar mehrere Gespräche notwendig, weil Ausdauer und Aufnahmefähigkeit der Leistungsberechtigten eingeschränkt sind. Die Fallmanager der Eingliederungshilfe sind federführend in diesem Prozess und für die Leistungsberechtigten häufig fremde Personen. Gerade Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen haben es schwer, offen über ihre Bedürfnisse zu sprechen, zu beschreiben, wo sie ihre Schwächen sehen und wo sie Hilfe benötigen. Aus diesem Grund empfehle ich Ratsuchenden, eine Vertrauensperson aus dem bestehenden Hilfenetzwerk in das Gesamtplanverfahren mit einzubeziehen. Diese Vertrauensperson kann zugleich bei der Zielformulierung unterstützen und mit ihrer Fachlichkeit zu einem gelingenden Gesamtplanverfahren beitragen. In den vergangenen Jahren waren die Leistungserbringer mit ihren wertvollen fachlichen Kennnissen immer an der Hilfeplanung beteiligt. Auf Wunsch des Leistungsberechtigten können sie sich weiterhin an der Teilhabeplanung beteiligen. Natürlich kommen auch Ratsuchende in die EUTB, die (noch) keine professionellen Hilfen haben. In diesen Fällen können wir Berater*innen als Vertrauenspersonen einbezogen werden. Die Begleitung im Gesamtplanverfahren durch eine Vertrauensperson mit Fachkenntnissen erleben unsere Ratsuchenden als sehr hilfreich. Im Anschluss fallen oft Sätze, wie: „Ich habe mich mit Ihnen sicherer gefühlt.“ „Danke, dass Sie mir Mut gemacht haben.“ „Gut, dass Sie mir geholfen haben, die richtigen Worte zu finden.“ Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Kostenträger die Beteiligung der Leistungserbringer bzw. der EUTB im Gesamtplanverfahren sehr begrüßen.  

Ein modernes Teilhaberecht stärkt die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung.

Durch die EUTB-Stellen haben Menschen mit Beeinträchtigungen bundesweit einen einfacheren Zugang zu einem Beratungsangebot, was die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung unterstützt,  sowie auf die Umsetzung des Wunsch – und Wahlrechtes hinwirkt.   

Ein weiterer Schritt in Richtung modernes Teilhaberecht stellt die zukünftige Herauslösung der Eingliederungshilfe aus der Sozialhilfe dar. Menschen, die auf Eingliederungshilfe angewiesen sind, werden ab 2020 nicht mehr automatisch zu Sozialhilfeempfängern. Verbesserungen in der Einkommens-und Vermögensheranziehung sowie das Ausbleiben der Anrechnung des Partnereinkommens waren schon lange überfällig. Die neuen Leistungen, um Menschen mit Behinderungen eine gleichberechtigte Teilhabe an Bildung zu ermöglichen, stellen für mich ebenfalls eine Selbstverständlichkeit dar. Bisher konnte man z.B.  keinen Masterstudiengang oder eine Promotion absolvieren, wenn man während des Studiums auf Assistenz angewiesen war.  Das ist diskriminierend.    

Durch das BTHG sehe ich aus der Perspektive der Teilhabeberatung positive Veränderungen, die zur Stärkung der Selbstbestimmung von Menschen mit Beeinträchtigungen beitragen. Der Perspektivwechsel von einrichtungszentrierter Hilfe zu personenzentrierter Hilfe ist eine Bereicherung. Leistungen der Eingliederungshilfe können jetzt unabhängig von der Wohnform gewährt werden. Mit dieser Voraussetzung konnten wir für Ratsuchende bereits mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Leben trotz vollstationärer Unterbringung erzielen.

Das BTHG verbirgt allerdings auch Schwachstellen. Z.B. fällt der Grundsatz „ambulant vor stationär“ weg. Das kann dazu führen, dass künftig eine Hilfe in den eigenen vier Wänden nur finanziert wird, wenn sie günstiger ist. Hilfen können für mehrere Betroffen gleichzeitig erfolgen. Damit ist das „Poolen von Leistungen“ gemeint. Dadurch fürchten Menschen mit Behinderungen zwangsweise in WGs leben zu müssen. 

Für die Aufnahme in eine WfbM gilt das Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeit. Dieses Kriterium bleibt trotz großer Kritik im BTHG bestehen. Damit sind schwer oder schwerst mehrfach behinderte Menschen aufgrund ihrer Behinderung und ihres Unterstützungsbedarfes weiterhin von einer gleichberechtigten Teilhabe am Arbeitsleben ausgeschlossen.

Ist das BTHG wirklich ein ausreichend „starkes“ Teilhabegesetz? Diese Frage bleibt für mich noch bestehen.


Friederike Hellinger
Dipl. Sozialpädagogin, Teilhabeberaterin
EUTB Diakoniewerk im nördlichen Mecklenburg gGmbH
Am Bahnhof 1
23936 Grevesmühlen
Tel.: +49 173 153 539 3
friederike.hellinge(at)diakoniewerk-gvm.de