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Von Achim Dochat

Das Bundesteilhabegesetz und die Rolle der Eingliederungshilfe in der Versorgung abhängigkeitskranker Menschen

Eingliederungshilfe als Teil der Suchthilfe    

In der Eingliederungshilfe wird eine große Zahl von abhängigkeitskranken Menschen versorgt. Dennoch sehen Viele sie bis heute nicht als genuinen Teil des Suchthilfesystems neben Beratung, Akutversorgung, Entzug, Rehabilitation und Anpassung, sondern eher als eine Art Resterampe für Menschen, die zweifellos hilfebedürftig sind, sich aber dem regulären Hilfeangebot entziehen. Immer noch werden Eingliederungshilfeleistungen zum betreuten Wohnen gelegentlich als „Betreutes Trinken“ diskreditiert.

Und doch kann kein Zweifel bestehen, dass Überlebenssicherung und Teilhabeförderung, das Anbieten von Lebensraum, Hilfe bei der Wiedergewinnung von Privatheit und Alltag, ein sinnvoller Teil der Suchtversorgung sind. Gerade auch dann, wenn Menschen mit Suchterkrankungen oder Doppeldiagnosen in zugespitzter, manchmal lebensbedrohlicher gesundheitlicher Situation eine gezielte Behandlung ablehnen.

Schon die Tatsache, dass das suchtspezifische Behandlungs- und Rehabilitationssystem nur einen begrenzten Anteil der Zielgruppe erreicht, weist der Eingliederungshilfe eine wichtige Versorgungsaufgabe zu, die es aktiv zu gestalten gilt. Ein niederschwelliger Einstieg ins Hilfesystem bedeutet nicht die Aufgabe der Ziele Abstinenz und Rehabilitation. Er bietet die Chance, ohne Zeitdruck Beziehung und Motivation aufzubauen, Rehaschritte vorzubereiten, den Zugang zu spezifischen Hilfen erst zu erschließen und aktiv Übergänge zu gestalten.

Eingliederungshilfe ist weit mehr als ein Reservoir der Nicht-Veränderungsbereiten, oder als eine Möglichkeit, Entscheidungen zu vermeiden. In seiner Untersuchung „Eingliederungshilfe für Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen“ bestätigt Degkwitz die Bedeutung der Eingliederungshilfe als Versorgungssegment für Menschen, die im Rahmen der regulären Suchthilfesystems nicht erreicht werden (Degkwitz et al 2016). Er weist nach, dass sich selbst in längerfristigen Maßnahmen deutliche positive Effekte zeigen:

  • Abnahme funktionaler Beeinträchtigungen
  • Besserer gesundheitlicher Status
  • Verbesserter Umgang mit Suchtmitteln
  • Bessere Alltagsbewältigung
  • Mehr soziale Beziehungen und Freizeitaktivitäten
  • Besonders bedeutsam: erhöhte Selbstwirksamkeitserwartung

Man kann die Entscheidung von Klient*innen für die Versorgung im System der Eingliederungshilfe als Vermeidungsverhalten ansehen. Wir sollten uns aber eher auf die Chancen besinnen, die in den unterschiedlichen Milieus stecken.

Dass viele Klient*innen Hilfeangeboten mit Ambivalenz und geringer Veränderungsmotivation begegnen, ist durchaus verständlich. Was folgt nach der Suchtbehandlung und Rehabilitation? Wir verlangen von den Rehabilitand*innen große Anstrengungen. Dem Aufwand stehen allerdings unklare Chancen gegenüber, die gleichzeitig mit hohen Risiken verbunden sind.

So gesehen ist es kein Störfall, sondern eher erwartbar, wenn gleichzeitig oder abwechselnd Kontakt zu mehreren Hilfeangeboten besteht. Versuche in Kontakt mit schwer erreichbaren Menschen zu kommen und zu bleiben, ereignen sich - ebenso wie Versuche misstrauischer Menschen vertrauenswürdige Helfer*innen zu finden - wahrscheinlich an mehreren Stellen parallel. Hilfesuchende werden mehrere Angebote ansprechen, prüfen, was sie zu bieten haben, wer im Moment hilfreich zu sein verspricht, werden hoch motiviert zur Kooperation sein und sich im nächsten Moment enttäuscht abwenden (und vielleicht nach der nächsten Enttäuschung wiederkommen).

Die Frage nach dem einen richtigen Behandlungsort ist Wunschdenken von Profis. Dass wir anforderungsreiche und anforderungsarme Angebote, abstinente und tolerierende Milieus, beschützende, überlebenssichernde und zielorientierte Programme haben, ist kein Problem, sondern ein Gewinn. Statt Konkurrenz und Denken in Alternativen wäre ein Verständnis als Teile eines Ganzen angemessener. Zielführender wäre die Beschäftigung mit Fragen wie:

  • Wer bietet wann das richtige Angebot?
  • Wer ist weshalb gewählt, angefragt worden, in Kontakt gekommen?
  • Wie und wie lange können Grundhaltung und Methodik des jeweiligen Bereichs einen passenden Beitrag leisten (z.B. niederschwellig vs. stark strukturiert)?
  • Wie können Übergänge, wo sie notwendig sind, gut gemanagt werden, damit sie nicht als Niederlage/Scheitern, sondern als sinnvoller Schritt nach vorn erlebt werden? (Dochat 2018)

Bundesteilhabegesetz (BTHG) - Die Reform der Eingliederungshilfe

Was immer nur kurz und technisch BTHG genannt wird, heißt eigentlich „Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen“. Der Titel macht deutlich, worum es dem Gesetzgeber geht. Er formuliert die Ziele:

  • Verbesserung der Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen im Licht der UN-BRK
  • Stärkung der Klient*innenautonomie
  • personenzentrierte Hilfebedarfsermittlung und Leistungserbringung

Die Stärkung der Selbstbestimmung von Klient*innen erledigt sich nicht von selbst durch die Veränderung gesetzlicher Bedingungen. Letztendlich ergeht der Auftrag an uns, die Entwicklung von Autonomie zu unterstützen, Kompetenzentwicklung und Entscheidungsfähigkeit zu fördern.

Wie sieht eine Grundhaltung von Mitarbeitenden aus, die Autonomie respektiert und dabei Verantwortung ernst nimmt? Sie bedeutet zuallererst, von einer Versorgungsorientierung zu einer Beratungsorientierung zu kommen, die Klient*innen auf ihren Wegen beratend zu begleiten. Begleiter*innen in diesem Sinne wissen nicht besser, wo es langgeht. Sie müssen eine Gratwanderung schaffen. Sie brauchen ein Gefühl für das richtige Verhältnis von Geduld und Respekt vor Individualität auf der einen und Grenzsetzung und Stellen von Anforderungen auf der anderen Seite. Sie stellen sich den individuellen Wünschen und Ansprüchen, setzen sich aber auch aktiv mit Ihnen auseinander. Für eine solche Art der Zusammenarbeit braucht es einen langen Atem. Sie verläuft fast nie geradlinig, sondern in immer neuen Spiralbewegungen. Dabei gilt es, die nötige Zeit zu lassen, Umwege zu erlauben und dabei Ressourcen und Veränderungsziele nicht aus den Augen zu verlieren.

Im Gesetz drückt sich das neue Selbstverständnis der Eingliederungshilfe als Rehabilitationsleistung aus. Mit dem Bekenntnis zu Personenzentrierung, Teilhabe- und Autonomieförderung steht es für einen grundlegenden Systemwechsel. Allerdings löst die anstehende Veränderung bei allen Beteiligten zunächst viel Verunsicherung aus. Gerade in stationären Wohneinrichtungen freuen sich (noch) nicht alle auf die neue Welt, die für Bewohner*innen und Leistungserbringer mit hohen Anforderungen und unerwarteten Komplikationen verbunden ist. Und auch die Kostenträger sehen sich einer noch nicht wirklich überschaubaren Fülle neuer Aufgaben gegenüber. Es wird wohl noch ein paar Jahre lernenden Umgang mit den neuen Regeln brauchen.

Wir sind derzeit mitten in der praktischen Gestaltung des Systemwechsels. Das Gesetz liefert uns dafür leider keine fertige Blaupause. Der Gesetzgeber spricht sogar von einem lernenden Gesetz und lädt uns damit zur aktiven Mitarbeit auf einer längerfristigen Baustelle ein. Einige offene Umsetzungsfragen seien kurz benannt, bei denen wir auf gute Lösungen achten müssen, um Risiken zu vermeiden.

  • Zielgruppendefinition Eingliederungshilfe: Wird die Neudefinition des Zugangs zu Eingliederungshilfe Suchterkrankung angemessen berücksichtigen?
  • Neuer Behinderungsbegriff und Bedarfsermittlung: Welchen Hilfebedarf sieht der/die Betroffene selbst? Hat ein suchtkranker Mensch, der sich in seinen vier Wände selbst ausreichend inkludiert findet, Teilhabebedarf? Wie viel Information gewinnt der/die Sachbearbeiter*in im Amt für Eingliederungshilfe im Interview?
  • Verfügbarkeit von Geld: Erhöhung des Konsumrisikos? Erhöhung des Finanzierungrisikos von Miete und Lebenshaltungskosten? Ausweitung rechtlicher Betreuungen?
  • Angebotssteuerung und wirkungsorientierte Prüfung: Ein Hebel zur Kostenreduktion?
  • Verhältnis von Eingliederungshilfe zu anderen Leistungsträgern: Greifen die Regelungen zur Koordination der Leistungsträger bei Komplexleistungen zukünftig besser? Gelingt die Abgrenzung der Hilfearten und Kostenzuständigkeiten?

Das BTHG stärkt den persönlichen Hilfeanspruch der Antragssteller*innen. Das ist ein wichtiger Fortschritt. Gleichzeitig müssen wir aber darauf achten, dass am anderen Ende niemand mit hohem Hilfebedarf herunterfällt. Gerade im Umgang mit denen, die nicht als autonome Kund*innen taugen, ist darauf zu achten, dass der Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht nicht dazu missbraucht wird, zynisch die Verweigerung von Hilfeleistungen zu begründen. Die Autonomie der Klient*innen enthebt uns nicht der fachlichen Verantwortung. Sie drückt sich aus in einem Selbstverständnis als Verantwortungsgemeinschaft mit einem gemeinsamen Versorgungsauftrag, im Bekenntnis zu einer regionalen Versorgungsverpflichtung. Bei Menschen mit besonderem Hilfebedarf, für die das Finden einer regionalen Lösung schwierig ist, braucht es die Bereitschaft zur Zusammenarbeit in geeigneten Gremien (z.B. Platzierungskonferenzen).

Mit der Betonung von individueller Bedarfsermittlung und personenzentrierter Leistungsgewährung folgt das BTHG langjährigen fachlichen Forderungen. Und doch dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren, dass nicht alle notwendigen Hilfen zur Teilhabe ohne Rest in individuellen Maßnahmen auflösbar sind. Ich habe eingangs beschrieben, was den besonderen Wert der Eingliederungshilfe in der Suchtkrankenversorgung ausmacht. Damit diese wichtige Rolle möglich bleibt, müssen wir in der praktischen Umsetzung des BTHG in den kommenden Jahren darauf achten, dass weiterhin niederschwellig erreichbare Orte und Beratungsangebote zur Verfügung stehen und dass die Notwendigkeit von Ressourcen für besonderen Kooperationsbedarf, sowie für sozialraumorientierte Betreuungs- und Präventionsarbeit im Blick bleibt.

Literatur:

Degkwitz, P., Oechsler, H., Martens, M., Verthein, U. Evaluation der Wirksamkeit der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte suchtkranke Menschen nach SGB XII. Studienbericht. Hamburg 2016

Dochat, A. Gemeindepsychiatrie und Suchthilfe - eine vertraute und doch nicht geklärte Beziehung Soziale Psychiatrie, 3/2018


Achim Dochat
Leitung Geschäftsfeld Sozialpsychiatrie
BruderhausDiakonie
Stiftung Gustav Werner und Haus am Berg
info(at)bruderhausdiakonie.de