Zum Inhalt springen Menü

Sie sind hier:

Von Falko Liecke

Neustart der Suchthilfe. Was jetzt zu tun ist.

Der riskante Alkoholkonsum bei Jugendlichen ist seit 2007 um etwa zwei Drittel zurückgegangen […] Der Anteil der Jugendlichen, die regelmäßig Alkohol trinken, ist in den letzten zehn Jahren ebenfalls gesunken, […]“

Dieses Zitat stammt aus dem gerade veröffentlichten Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung. Er bietet einen guten Überblick über die Situation in Deutschland. Er zeigt Licht und Schatten. Es ist gut, dass es diesen Bericht gibt.

Ich will zwei Zahlen dagegensetzen: die Anzahl der akuten Alkoholvergiftungen von 15 bis 19-Jährigen liegt in Neukölln bei 112 Fällen pro 100.000 Einwohner. In Steglitz-Zehlendorf sind es 264 Fälle pro 100.000 Einwohner. Selbst die beiden Nachbarbezirke Neuköllns haben fast doppelt so hohe Zahlen.

Was sagt uns das als politisch Verantwortliche? Es sagt uns, dass die Situation in den Kommunen eine andere ist, als sie in bundesweiten Erhebungen abgebildet werden kann. Um wirklich zu wissen, wo die Probleme in den Kiezen liegen, brauchen wir mehr Daten und mehr Informationen.

Eine weitere Zahl: mit 242 vollstationären Krankenhausaufenthalten wegen einer Störung durch Alkoholabhängigkeit pro 100.000 Einwohner ist Neukölln berlinweit auf Platz 2. Unser Nachbarbezirk Treptow-Köpenick hat gerade einmal 40,5 entsprechende Aufenthalte. Wie kann das alles zusammenpassen? Das müssen wir uns in den Kommunen fragen! Sonst können wir darauf nicht reagieren. Oder wir raten nur und tun mit hoher Wahrscheinlichkeit das Falsche.

In Neukölln ist es so, dass viele Jugendliche muslimischen Glaubens sind oder jedenfalls nach entsprechenden Wertvorstellungen erzogen werden. Der Konsum von Alkohol ist daher eher gering – oder es wird keine medizinische Hilfe aufgesucht aus Angst, die Eltern erfahren davon.

Gleichzeitig leben in Neukölln viele Menschen mit niedrigem sozialen Status, was bekanntermaßen ein hoher Risikofaktor für chronischen Alkoholkonsum und daraus resultierende Schäden ist. Die zunehmende Heterogenität der Bevölkerung schlägt hier voll durch und zeigt: es gibt keine einfachen Lösungen.

Alkohol ist die Droge Nummer 1 in Deutschland, aber solche und ähnliche differenzierten Befunde können wir für fast alle legalen und Illegalen Drogen sehen. Die Zahl der Behandlungen in Folge eines Opiodkonsums sind in Neukölln dreimal so hoch wie im Berliner Durchschnitt. Mehr als siebenmal so hoch wie im Nachbarbezirk. Und auch bei Fragen der digitalen Sucht sind die Antworten nicht so einfach, wie es manchmal scheint. Es reicht nicht, Onlinezeiten nebeneinander zu stellen und das Nutzungsverhalten Sozialer Medien aus dem Blickwinkel von denen zu betrachten, die mit Wählscheibe und Telefonzelle aufgewachsen sind.

Wirksame Prävention geht nur datenbasiert

Um wirksame Prävention zu betreiben, müssen wir in den Kommunen wissen, wie die Lage vor Ort ist. Ich sehe an dieser Stelle noch immer große Lücken. Viel zu oft fehlen konkrete Daten und objektive Erkenntnisse darüber, welche Probleme es tatsächlich vor der Bürotür gibt. Und eine noch so gute Berichterstattung der Bundesregierung hilft uns da eben nicht weiter.

In Neukölln leisten wir uns seit Jahren eine hervorragende Gesundheitsberichterstattung, die jährlich mehrere Berichte veröffentlicht. 2017 war es ein Drogen- und Suchtbericht, der keinen Vergleich zu scheuen braucht. Auch da stoßen wir auf das Problem der fehlenden Daten auf Bezirks- und Planungsraumebene. Aber für mich als politisch Verantwortlichen ist es schon eine große Hilfe, kleine Einblicke in die lokale Ebene zu bekommen und nicht auf deutschlandweite Zahlen angewiesen zu sein. Davon muss es mehr geben. Und das muss eine Stadt wie Berlin auch für seine Bezirke leisten können. Wohlgemerkt allesamt Großstädte mit 250.000 bis über 400.000 Einwohnern. Allein Neukölln ist mit seinen 330.000 Einwohnern größer als Bonn.

Eine gute Gesundheitsberichterstattung ist der erste Schritt. Im zweiten geht es ums Geld. Als Beispiel für den Kampf, den Bezirke und Kommunen da täglich führen müssen, mag die Schulsozialarbeit in meinem Bezirk dienen. Parteiübergreifend und mit großer Zustimmung im Jugendhilfeausschuss haben wir erkannt, dass sie gestärkt werden muss. Am Ende hatten wir mit allen Bemühungen 30.000 Euro für 17 Schulstationen zu verteilen. 1.764 Euro und 70 Cent pro Jahr und Schulstation sind nicht das, was ich mir unter einer qualitativen Verbesserung vorstelle. Aber mehr war nicht drin. Der Haushalt Neuköllns umfasst für 2020 fast eine Milliarde Euro. 3,5 Millionen Euro davon können wir mehr oder weniger frei verplanen. So etwas nennt sich euphemistisch „politische Schwerpunktsetzung“. Davon finanzieren wir dann Baumaßnahmen maroder Jugendeinrichtungen und Schulen, unsere Neuköllner Präventionskette für das gesunde Aufwachsen aller Kinder oder eben Straßensozialarbeit für suchtkranke Menschen.

Das Problem ist strukturell

Und viel zu oft fehlt genau dort das Geld, wo die Arbeit gemacht wird, die wir uns wünschen. Prävention, Aufklärung, Unterstützung und Hilfe. Mit Blick auf die Berliner Suchthilfe kann ich sagen: dieses Problem besteht nicht nur im Bereich der Schulstationen, sondern strukturell und flächendeckend.

Immer wieder werde ich gefragt, ob der massive öffentliche Drogenkonsum in Neukölln auf Wanderungsbewegungen aus anderen Stadtteilen zurückzuführen ist. Und ich muss dann immer ein wenig verlegen mit den Schultern zucken und sagen: „das ist mein Eindruck“.

Genau sagen kann Ihnen das niemand, weil es bisher kein berlinweites Lagebild gibt. Die zuständige Senatsverwaltung hat einfach keinen Überblick. Während mir vollkommen unklar ist, wie man ohne Datengrundlage die Suchthilfe für eine Metropole strategisch aufstellen will, werden in Berlin aber blind Drogenkonsumräume eröffnet. Gleichzeitig ploppen wöchentlich neue Konsumschwerpunkte auf, für die ein stationärer Konsumraum keine Lösung sein kann.

Wir sehen an diesen Beispielen, dass wir im Bereich der Suchthilfe genauer, kleinteiliger und flexibler werden müssen.

Das gilt für die Prävention. Das gilt für Aufklärung. Das gilt aber auch für die unmittelbare Hilfe für suchtkranke Menschen in unserer Stadt. Wenn ein Konsumraum für einen Bezirk wie Neukölln mit 330.000 Einwohnern keine Lösung ist, dann sind es auch drei Konsumräume für bald vier Millionen Menschen in Berlin nicht. Als Vertreter Berlins im Gesundheitsausschuss des Deutschen Städtetages habe ich vor kurzem gesehen, wie Frankfurt es macht. Vier Konsumräume für 750.000 Einwohner und das Problem ist nicht gelöst. Was also tun?

Wir müssen endlich genauso flexibel werden, wie es die Drogenszene schon seit Jahren ist. Dazu brauchen wir mehr aufsuchende Straßensozialarbeit. Wir brauchen mehr Dolmetscher. Wir brauchen mehr mobile Konsumräume. Ich will mindestens drei pro Bezirk. Und wir brauchen endlich dieses Lagebild für die ganze Stadt. Dass sich da einige Bezirke im eigenen Projekt „NUDRA“ auf den Weg gemacht haben und die Senatsverwaltung mitnehmen ist gut, reicht aber nicht aus.

Drogenpolitik mit Herz und Härte

Ich bin der festen Überzeugung, dass Suchthilfe immer auch Drogenpolitik ist. Eine Suchthilfe mit Herz geht nur zusammen mit der harten Hand gegen kriminelle Dealer und ihre Hintermänner.

  • Der Senat muss unverzüglich zusätzlich zu den stationären Konsumräumen mobile Angebote für die am stärksten betroffenen Bezirke zur Verfügung stellen. Allein in Neukölln werden mindestens drei, bestenfalls fünf Konsummobile oder Container benötigt.
  • Berlin braucht eine erhebliche Aufstockung der Straßensozialarbeit mit Fremdsprachenunterstützung, um suchtkranken Menschen angemessen zu helfen.
  • Berlin braucht auch Sozialarbeit in den U- und S-Bahnen. Der öffentliche Nahverkehr darf nicht zum Angstraum für ganz normale Berlinerinnen und Berliner werden.
  • Zur Bekämpfung des Handels mit illegalen Betäubungsmitteln darf es keinen Rechtsstaatsrabatt für Drogendealer geben. Schon der einmalige Handel mit verbotenen Substanzen muss zu schnellen und spürbaren strafrechtlichen Konsequenzen führen. In jedem Einzelfall sind außerdem aufenthaltsrechtliche und aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu prüfen.
  • Neukölln braucht eine Soko Opium der Polizei, die gezielt Strukturen bekämpft und Netzwerke stört.

In Berlin gibt es in Sachen Suchthilfe noch viel zu tun. Aber nicht alles ist schlecht. Ich sehe großes Engagement in der Zivilgesellschaft. Großes Mitgefühl für suchtkranke Menschen und ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass sich kein Mensch dieser Welt seine Krankheiten selbst aussucht. Ich sehe Widerstand und Ablehnung gegen eine zunehmende Verharmlosung selbst schwerster Drogen und ich bin dankbar dafür.

Die Politik kann noch mehr tun. Wenn es sein muss, nach der nächsten Wahl. Mir wäre lieber, es passiere schon vorher etwas.

Falko Liecke
Bezirksstadtrat Berlin Neukölln,
stellv. Bezirksbürgermeister,
Leiter der Abteilung Jugend und Gesundheit
Tel.: +49 30 902 392 291
post(at)bezirksamt-neukoelln.de