Sucht im Wandel
„Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren und verachtet die Autorität. Sie widersprechen ihren Eltern, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“ Dieser Satz stammt nicht etwa aus dem Jahr 2019. Er beschreibt nicht die Situation eines modernen Gymnasiums, einer Gesamt- oder Förderschule. Nein, kein geringerer als der griechische Philosoph Sokrates prägte diesen Satz vor über 2400 Jahren. Er drückte bereits damals aus, was uns heute immer wieder verunsichert, überfordert oder gar zur Verzweiflung treibt: Die „JUNGEN“ sind anders als die „ERWACHSENEN“. Sie haben andere Ausdrucksformen, Lebensweisen, Sichtweisen und Konsumformen. Sie haben andere Bedürfnisse, setzen andere Prioritäten und sind konfrontiert mit unterschiedlichsten Herausforderungen. Ihre Entwicklung ist in ständigem Umbau und sicher ist nur eines: Irgendwann sind auch sie erwachsen. Wie vor 2400 Jahren ist es mal wieder Zeit, sich auf den Weg zu machen, zu beobachten, zu lernen und voneinander zu erfahren. Damit der Dialog auch heute nicht ins Stocken gerät.
Generation Z
Die Gesellschaft verändert sich stets. Es lohnt dabei der Blick auf die junge Generation, um zu verstehen. Doch wer ist diese junge Generation Z überhaupt? Diese Generation der Jahrgänge 1997 – 2012, auch bekannt als die Digital Natives. Den Umgang mit Internet, Computer, Smartphone, Handy und Tablet haben sie nicht erst im frühen jugendlichen Alter kennengelernt. Sie wurden in die digitale Welt geboren, sind damit aufgewachsen, empfanden sie als etwas normales, schon immer Dagewesenes. Ähnlich wie frühere Generationen den Fernseher, das Auto, den Kühlschrank und das gute alte Kabeltelefon lieb gewonnen haben und nicht mehr darauf verzichten wollten. Die Generation Z nutzt all diese Möglichkeiten der neuen Medien und Techniken, um ihr Leben zu gestalten, um Bedürfnisse zu befriedigen und natürlich auch evtl. vorhandene Defizite zu kompensieren. Dabei steckt gerade in der Nutzung wie immer auch ein Risiko und zuweilen auch eine Gefahr für den Konsumenten. Aber ähnlich dem Schwimmen, das die meisten auch nicht auf dem Trockenen lernten, begreifen sie im aktiven Umgang mit den neuen Techniken mögliche Risiken, lernen den Umgang und erkennen dabei Gefahren. Mit der nötigen Begleitung durch Familie, pädagogische Fachkräfte der Jugendarbeit/Suchtprävention und auch durch Selbsthilfe, bietet sich die Möglichkeit, den eigenen “Konsum“ zu reflektieren und dabei zu lernen. Zu lernen auf Augenhöhe. Dabei lernen Sie nebenbei ganz viel anderes auch in Bezug auf den Umgang mit Rauschmitteln. Ich sollte: wissen, was drin ist, immer in Kontakt mit der realen Welt/ meine Mitmenschen bleiben, immer überlegen, ob das, was ich mache mir gut tut oder ob ich es doch anpassen oder gar nicht tun sollte.
Der berühmte Jugendsoziologe Klaus Hurrelmann beschreibt die Jugend von heute als Menschen, die „nicht mehr wie ihre Vorgänger als Bittsteller auftreten müssen, sondern wählen können. Mehr und mehr sind es die Firmen, die um ihre Gunst als künftige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werben müssen. Das wird über kurz oder lang zu einer deutlichen psychischen Entspannung führen und könnte langfristig auf die Motivation am Arbeitsplatz Einfluss nehmen.“ Mit verschiedensten Folgen für unsere Gesellschaft: „für Angehörige der Generation Z nicht mehr so wichtig wie für die Generation Y sei, einen möglichst ausgezeichneten Schulabschluss mit Bestnoten zu erreichen. Angesichts des Arbeitskräftemangels, etwa auf dem Arbeitsmarkt für Handwerker, sei es nicht einmal mehr erforderlich, einen Hochschulabschluss zu erreichen, um zu einem zufriedenstellenden Lebenseinkommen zu gelangen.“ Gleichzeitig erwerben sie sich vielfältige Kompetenzen und fachliche Qualitäten (nicht nur im digitalen Bereich! Anm. d. Verfassers). Sie sind gedanklich und räumlich flexibel, nutzen die Chancen einer offenen Welt. Sie versuchen, die Risiken ihrer Welt zu managen. Und hier und da merken wir, das auch diese Generation sich an alten Werten orientiert. Häufig zu positiven (Ernährung, Familie, Umwelt ...) und manchmal auch leider zu negativen (Rassismus ...). So weit so gut.

Eine der populärsten Jugendstudien, die Shell Jugendstudie 2015[1], beschreibt die Generation Z als selbstbewusste und entscheidungsfreudige Generation, die sich auch politisch wieder stärker einmische. Gleichzeitig steige die Abhängigkeit vom Elternhaus aufgrund der unsicheren Planbarkeit des eigenen Lebenslaufs. Etwas ebenfalls wenig erfreuliches beschreibt Jean Twenge 2018 in ihrem Buch „Me, my Selfie and I“[2] . Zwar sinken risikobedingte Faktoren auch für Suchtentwicklungen, wie beispielsweise die ersten Rauscherfahrungen mit Alkohol, bedingt durch den späteren Erstkontakt. Gleichzeitig verbringen bereits sehr junge Menschen immer früher, immer mehr Zeit mit ihren Smartphones, was ebenfalls zu einer nicht minder riskanten Entwicklungsverzögerung führe. Diese spiegele sich besonders in der Ausbildungsfähigkeit wider. Mit nicht zu unterschätzenden Folgen. Und da schließt sich ein Kreis: Die Arbeitswelt und die Gesellschaft braucht die Jugend, buhlt um sie und gleichzeitig sinkt die persönliche Reife? Es ist also nicht alles Gold, was glänzt.
Konsumgesellschaft – Zahlen und Daten
Unterschiede zwischen Jung und Alt scheint es also genügend zu geben. Bei all den Differenzen kommen sich die Generationen in den letzten Jahren in einigen Bereichen auch näher. Dies wird besonders deutlich in Bezug auf den Konsum von Rausch- und Suchtmitteln. Durchaus positiv – trotz geringfügiger Schwankungen und regionaler Unterschiedlichkeiten – sind die Nachrichten der Bundesdrogenbeauftragten zu werten.
Der Konsum von Alkohol und Tabak ist in Deutschland auf dem niedrigsten Stand seit 1970. Man nehme das Beispiel Alkohol. Nie wurde weniger getrunken als heute. Lag der bundesdeutsche Jahresverbrauch pro Person von reinem Alkohol 1970 noch bei 14,4 Liter, so sank dieser laut aktuellem Jahrbuch Sucht[3] bis zum Jahr 2015 auf 10,7 Liter. Und um dies noch etwas zu verdeutlichen: Der durchschnittliche Konsum von Bier, Schaumwein, Wein und Spirituosen sank von 165,1 Liter auf 136,9 Liter. Was wiederum nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass Deutschland laut den aktuellen OECD Daten[4] mit fast 11 Litern im europaweiten Vergleich immer noch auf einem der hinteren Plätze rangiert. Platz 1 belegt Norwegen mit 6 Liter, während der OECD-Durchschnitt bei 9,0 Liter liegt. Ähnliche Ergebnisse finden wir gesamtgesellschaftlich auch bei anderen stoffgebundenen Rausch- und Suchtmitteln. Einzig Cannabis stieg in der Popularität seit den 70er Jahren an. Und das auch hier in allen Altersklassen. Wohlgemerkt trotz restriktiver Gesetzgebung. Aber mit seit einigen Jahren wieder sinkender Tendenz. Besorgniserregend sind dennoch die aktuellsten Zahlen des Alkoholsurvey 2016[5] der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) in Bezug auf die 12- bis 17-jährigen Konsumenten. Hier gaben fast 8,3 % der Befragten an, Cannabis bereits versucht zu haben. 2,2 % bestätigten gar einen regelmäßigen Konsum. Hier überholt ein eigentlich illegales Rauschmittel gar den glücklicherweise seit Jahren rückläufigen Konsum von Tabak.
Noch erschreckender sind die Zahlen in Bezug auf Computer- und Internetsucht. Laut einer aktuellen Umfrage der DAK Gesundheit nutzen bereits mehr als 85 % der 12- bis 17-Jährigen täglich Social Media mit einer durchschnittlichen Nutzungsdauer von 166 Minuten. Laut aktuellen Untersuchungen
leiden in dieser Altersgruppe bereits ca. 2,6 % an einer sogenannten „Social Media Disease“. Das entspricht bundesweit ca. 100.000 Jungen und Mädchen. Sie vernachlässigen ihr familiäres Umfeld, schulische Leistungen fallen stark ab und es erfolgt ein sozialer Rückzug mit körperlichen und geistigen Folgen. Das Leben spielt sich häufig nur noch online ab. Es droht der Verlust zur realen Welt. Zahlen, die zeigen: Auch wenn in einigen Bereichen erfreuliche Tendenzen zu verzeichnen sind: Es besteht weiterhin ein sachlicher Informations- und Dialogbedarf in Schule, Elternhaus und Öffentlichkeit. Besonders Kinder und Jugendliche brauchen Begleitung, um sich mit den Gegebenheiten und Anforderungen unserer modernen Gesellschaft zurechtzufinden.
[3] Jahrbuch Sucht 2018, Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (Hg.) (2018). Lengerich: Papst.
[4] vgl. OECD (2017): Health at a Glance 2017: OECD Indicators, Paris
[5] http://www.bzga.de/forschung/studien-untersuchungen/studien/suchtpraevention/.
Was steckt hinter dem Konsum
Die Gründe für Suchtentwicklungen sind in den letzten Jahrzehnten ausführlich erforscht worden. Und sicherlich änderten sich diese nicht grundlegend. Bereits 1973 beschrieben Ladewig und Kielholz mit dem Trias-Modell, einem Prozess- und interaktionsorientierten Konzept, dass abhängiger Drogenmissbrauch ein Resultat des Zusammenwirkens verschiedener Faktoren in der Person, der Umwelt und der Droge ist. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl weiterer Erklärungsmodelle, die eines gemeinsam haben: Suchtentwicklung ist äußerst individuell und zuerst immer ein Rätsel, auch wenn eine Vielzahl von Risikofaktoren aufgelistet und untersucht wurden. Hier besonders zu erwähnen ist das Risiko der Suchtentwicklung von Kindern aus suchtbelasteten Familien, welches glücklicherweise in den letzten Jahren zunehmend Aufmerksamkeit erfährt. Nicht zuletzt im aktuellen Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung, welche diesem Thema ein ganzes Kapitel widmet. Bleibt aber die Frage: Was steckt hinter dem Konsum? Welche Bedürfnisse verbinden Kinder, Jugendliche und Erwachsene heutzutage mit dem Konsum von legalen und illegalen Rauschmitteln, dem Treiben durch virtuelle Welten oder dem Spielen am Glücksspielautomaten? Auch hier lohnt sich ein Blick in die Wissenschaft. Der US-amerikanische Psychologe Abraham Maslow beschrieb in seiner nicht unumstrittenen, aber nachvollziehbaren, als Bedürfnispyramide bekannt gewordenen Theorie allgemeine Motive und Bedürfnisse, die uns in unserem Handeln beeinflussen. Er unterteilt dabei in zwei Kategorien, welche wiederum in mehrere Ebenen unterteilt sind:
Wichtig dabei ist zu beachten, dass die Kategorie 1 (Defizitbedürfnisse) als essenzielle Bedürfnisse beschrieben wird, welche für eine gesunde Entwicklung mehr oder weniger befriedigt werden sollten. Hinzu kommen die sogenannten Wachstumsbedürfnisse der zweiten Kategorie, welche nie hundertprozentig befriedigt werden können, aber dennoch als wichtig zu beachten sind. Bei Nichterfüllung der ersten, aber auch in Teilen der zweiten Kategorie können sich nach Maslow physische, aber auch psychische
Störungen entwickeln. Einfach beschrieben bedeutet dies: Die Gründe für Konsum oder Sucht sind wie bei allen Handlungen von Menschen äußerst vielfältig, und es bedarf stets, bei all der Neigung zur Kategorisierung, der individuellen Betrachtung. Mal ist es das Bedürfnis nach Anerkennung, mal die Flucht aus dem Alltag oder auch den Schwierigkeiten des Lebens. In ihrem Buch HIGH SEIN[6] berichten die Autoren vom Wunsch und der Möglichkeit der Veränderung des Denkens und der Emotionalität. Sie beschreiben ein anderes Bedeutungserleben, das den Alltag als unwichtig erscheinen lässt und somit auch die kleinen und großen Probleme für einen kurzen Augenblick in den Hintergrund rücken lassen. Der einmalige Gebrauch mag dabei in den meisten Fällen noch nicht einmal das größte Problem sein. Tritt jedoch eine gewohnheitsmäßige Kompensation auf, sind die Folgen, ähnlich wie zu allen Zeiten, verheerend.
[6] HIGH SEIN – Ein Aufklärungsbuch Rogner & Bernhard GmbH & Co. Verlag KG, Berlin
Höher, schneller, weiter – Selbstoptimierung ohne Ende?
Eine Ursache, welche in den letzten Jahren vermehrt in den Vordergrund drängt, ist der „Wunsch“, dem Leistungsdruck standhalten zu müssen. Selbstoptimierung ist das Zauberwort der Stunde. Die eigene Leistungsgrenze immer weiter auszudehnen. Sie nicht zu akzeptieren. Sich mit „Hirndoping“ schlauer oder gar „besser“ zu machen. Und gleichzeitig mit Hilfe diverser Substanzen wieder zu entspannen. Möglichst schnell und möglichst auf Knopfdruck. Eine gefährliche Mischung. Mit unberechenbaren Folgen, nicht selten endend in einer Suchterkrankung bei Jugendlichen und Erwachsenen.

Niko Blug
Dipl. Sozialpädagoge / risikopädagogischer Begleiter (risflecting)
Projektmitarbeiter blu:prevent
niko.blug(at)blaues-kreuz.de

Mit freundlicher Genehmigung von Nico Blug durften wir das Kapitel "Sucht im Wandel" aus dem Praxishandbuch "Sucht Prävention Quick Guide" übernehmen.
Weitere Informationen zu blu:prevent finden Interessierte über:
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