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Editorial

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

lange Zeit galt Abhängigkeit als moralisch verwerfliches Laster und Fehlverhalten, das die Betroffenen mit einer Willensentscheidung ändern könnten. Erst das Urteil des Bundessozialgerichts aus dem Jahr 1968 ermöglichte die Anerkennung der Sucht als Krankheit mit einem Recht auf eine von Renten- bzw. Krankenversicherung finanzierte Behandlung.

Trotz allem wird nach wie vor Menschen, die an Abhängigkeitserkrankungen leiden, sowie ihren Angehörigen anders begegnet als Personen, die von somatischen Krankheiten betroffen sind. Letztendlich bildet sich dieses Phänomen auch in der Therapie ab. Stellen Sie sich vor, wir würden von einem an Diabetes erkrankten Menschen verlangen, er möge erst seine Blutzuckerwerte regulieren, ehe die Behandlung beginnen kann. Das klingt paradox, gleichzeitig fordern wir bei der Therapie der Abhängigkeitserkrankung als Vorbedingung den Verzicht auf das Symptom, nämlich den Einsatz des Suchtmittels, welches innerhalb seiner Psychodynamik und der Selbstregulierungsprozesse einen stabilisierenden Sinn ergab - in der Konsequenz allerdings einen zum Scheitern verurteilten Selbstheilungsversuch darstellt.

Die Zahlen und Statistiken zeigen, dass Abhängigkeit nicht als Problem einer Randgruppe einzuordnen ist, sondern in einer nicht zu unterschätzenden Größenordnung alle gesellschaftlichen Schichten betrifft und gleichzeitig hohe volkswirtschaftliche Ausgaben, v. a. im Gesundheitswesen, mit sich bringt.

Im Hinblick auf die Vielzahl der Menschen, die von einem Suchtmittel abhängig sind, stellt sich die Frage, warum dieser Personenkreis noch immer einer Stigmatisierung ausgesetzt ist, die dazu beiträgt, dass Scham- und Schulgefühle eskalieren, dass der Versuch unternommen wird, die Erkrankung so lange wie möglich zu verbergen und so eine Chronifizierung auf sozialer, physischer und psychischer Ebene in Kauf genommen wird.

In der aktuellen Ausgabe unseres Verbandsmagazins gehen die Autor*innen der Frage nach, was das Stigma der Abhängigkeit ausmacht und unterhält. Dient Stigmatisierung, also das Zuschreibung von bestimmten Merkmalen und Eigenschaften, zur Vorstrukturierung von Situationen und so zum Gelingen einer Adaptionsleistungen, die die sich schnell wandelnde Gesellschaft fordert? Wie wird das Stigma durch das in unserer Gesellschaft aktuell gültigen Werte- und Normensystem unterstützt? Die beiden Fragen stehen stellvertretend für das Portfolio der Beiträge, die uns letztendlich auch dazu ermuntern, die eigenen Vorurteile zu reflektieren, die Angst vor dem Fremden zu überwinden und dem abhängigkeitskranken Menschen fernab jeder Theorie mit einer Präsenz für alle seine Bedürfnisse, mit Respekt vor seinem Entwicklungsschicksal und mit der Akzeptanz für sein Gewordensein zu begegnen.

An dieser Stelle bedanken wir uns bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen in den Einrichtungen der Suchthilfe und der Suchtselbsthilfe, herzlich, dass Sie mit Ihrer täglichen Arbeit auf ganz unterschiedliche Art dazu beitragen, der Stigmatisierung von Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen entgegenzuwirken – nicht nur aber eben auch in der herausfordernden von der Pandemie geprägten Situation.

Eine interessante Lektüre und einen schönen Sommer mit vielen sonnigen Tagen wünschen

Ihre

Corinna Mäder-Linke

Geschäftsführerin GVS

Ihre

Nicola Alcaide

Referentin Sucht-Selbsthilfe