Stigmatisierung von Sucht – Zeit für eine neue Betrachtung
„Ich sehe den Abhängigen als Sucher; allerdings einen missgeleiteten. Der Süchtige ist ein Mensch auf der Suche nach Lebensfreude, vielleicht sogar auf der Suche nach einer transzendenten Erfahrung - und ich möchte betonen, dass diese Art der Suche außerordentlich positiv ist. Der Süchtige sucht zwar am falschen Ort, aber er strebt nach etwas sehr Wichtigem, und wir können es uns nicht leisten, dieser Suche keine Beachtung zu schenken.“
Dr. Deepak Chopra, Wege aus der Sucht
Sucht hat verschiedene Gesichter
Wenn wir über Sucht sprechen, fallen den allermeisten Menschen sofort Alkoholsucht, Nikotinsucht oder Drogen- bzw. Tablettensucht ein. Das bemerke ich als Psychologin, aber auch als Grüne Bundestagsabgeordnete und Sprecherin für Jugendpolitik meiner Fraktion immer wieder. Sehr häufig wird „Sucht“ gleichgesetzt mit der Abhängigkeit von schädlichen oder ungesunden Stoffen, die eben durch die Sucht in einem zu hohen Maß konsumiert werden und die Menschen krank machen. Im Fokus stehen also meistens stoffgebundene Süchte - irrtümlicherweise.
Hier zeigen sich aber bereits zwei durchaus gängige Vorurteile. Denn, erstens gibt es viel mehr „Süchte“, wie zum Beispiel Arbeitssucht, Spielsucht, Online-Sucht, Ess-Sucht, Magersucht, Sexsucht, Sportsucht, Kaufsucht, Fernsehsucht – um nur die häufigeren zu nennen. Einige davon sind in unserer leistungsorientierten Gesellschaft dabei sogar durchaus positiv konnotiert. So stören sich die wenigsten an einem Fitness-Junkie, sondern bewundern diesen Menschen sogar heimlich für seine Disziplin und seinen gestählten Körper. Und auch der sogenannte Workaholic ruft zwar oft ein ungläubiges Staunen hervor, gilt vielen aber als dynamisch und belastbar. Ein Macher eben.
Zweitens macht Sucht nicht krank, sondern sie ist bereits an und für sich eine Krankheit. Diese lässt sich sogar im Gehirn von Betroffenen nachweisen. Auch weiß die moderne Psychologie mittlerweile gut Bescheid über die Vererbung von Sucht. Sucht ist eben keine Charakterschwäche, darauf möchte ich gleich zu Eingang nachdrücklich hinweisen. Und natürlich kann eine stoffgebundene Sucht wie etwa nach Cannabis, Tabletten oder Alkohol im Lauf der Suchtgeschichte schwere körperliche Schäden nach sich ziehen. Das ist keine Frage.
Stigmatisierung von Sucht
Interessant finde ich, dass das Konzept von Sucht als Krankheit schon in der Etymologie des Wortes enthalten ist. Denn das alt- und mittelhochdeutsche „Suht“ bedeutet Krankheit. Was unsere Vorfahren also bereits wussten, ist heute leider immer noch nicht vollkommen gesellschaftlich anerkannt. Süchtige gelten außerhalb der Fachwelt häufig als willensschwach, mit dem Leben überfordert, aus der Bahn geworfen, teilweise sogar als VertreterInnen des Prekariats, also als Menschen, die keiner geregelten Arbeit nachgehen, zu Hause sitzen und Bier und Schnaps konsumieren. In dieser Betrachtung und Einordnung, ja Verurteilung, wird die sogenannte „Psychologie des Mangels“ deutlich. Nicht Ressourcenorientierung steht im Zentrum, also die Idee, welche Stärken und Begabungen der Mensch hat, sondern der Gedanke, dass „denen“ etwas fehlt, sie zu schwach und erfolglos sind und dementsprechend als defizitär erachtet und eingeordnet werden.
Dabei kommt Sucht in jeder Gesellschaftsschicht vor. Überall. Es gibt die alkoholabhängige Studienrätin, den tabletten- und nikotinsüchtigen Chefarzt, die magersüchtige Tochter der besten Freundin, die regelmäßig koksende Künstlerin oder den zuckersüchtigen Vertriebsleiter. Von derartigen Fällen hört man zwar manchmal - oder liest in der Regenbogenpresse von der Entziehungskur irgendeines Prominenten, aber letztendlich werden Suchterkrankte, die mitten unter uns leben allzu oft und allzu gerne übersehen. Und auch Betroffene selbst und auch deren Familien versuchen lange ihre Erkrankung zu verstecken, geheim zu halten, aus Angst vor Ablehnung und Stigmatisierung. Sie meistern ihr Leben oft trotz ihrer Erkrankung aus eigener Kraft. Viele dieser Menschen, vor allem Frauen, sind gesellschaftlich völlig unauffällig und halten über Jahre ein ganz „normales“ Leben mit Arbeit und Familie aufrecht.
Sucht ist also kein Randproblem, auch wenn die Erkrankung im gesellschaftlichen Leben häufig totgeschwiegen, verheimlicht und übersehen wird. „Süchtig sein“ bedeutet krank zu sein und darf nicht länger stigmatisiert werden. Denn kranke Menschen verdienen unsere Unterstützung.
In den 1980-er und 1990-er Jahren gab es zu Recht eine große Welle der Empörung, als HIV-infizierte Menschen aus Angst vor Ansteckung gesellschaftlich ausgegrenzt und stigmatisiert wurden. Diese Welle wünsche ich mir auch in Hinblick auf Menschen mit einer Suchtgeschichte, am besten eine Welle der Solidarität, die Möglichkeiten und Unterstützungsangebote aufmacht. Die Menschen ermutigt, die ihre Stärken fördert und den Mut, sich und anderen die Sucht einzugestehen, belohnt. Denn Stigmatisierung führt zu Stress und setzt unter Umständen einen Teufelskreis in Gang, aus dem die Betroffenen selbst nicht mehr herauskommen.
Entstigmatisierung der Hilfesysteme
Suchen Suchterkrankte irgendwann doch Hilfe, weil sie durch die Sucht keinen geregelten Alltag mehr hinbekommen und beispielsweise Angst haben, ihren Kindern nicht mehr gerecht zu werden, ist die Hürde in die Hilfesysteme sehr hoch. Das wird oft nicht genügend mitgedacht und berücksichtigt.
Wer will schon als VersagerIn gelten, weil er oder sie es aus eigener Kraft nicht schafft? Dieses Eingeständnis erfordert viel. Und zum anderen sind Hilfen unseres Sozialsystems oft selbst negativ behaftet: Jugendhilfe, Frühe Hilfen, Suchthilfe - all diese gelten vielen als Endstation für die, die es in unserer Leistungsgesellschaft angeblich nicht geschafft haben. Der Teufelskreis aus dem Gefühl versagt zu haben, dreht sich für die Hilfesuchenden weiter. Ihre Lebensqualität in einem ohnehin schon hochbelasteten Alltag schwindet weiter. Ich plädiere daher für einen Imagewandel unserer Hilfesysteme.
Wir brauchen mehr positive Bilder, ein positives Narrativ. Sich selbst Hilfe beim Jugendamt zu holen, darf beispielsweise nicht einhergehen mit der Angst, das Kind zunächst einmal abgeben zu müssen, womöglich sogar zu verlieren. Die Schwellenangst ist aus diesen Befürchtungen heraus immer noch zu hoch.
Mehr zielgruppengerechte Information und Aufklärung, eine Art „Imagekampagne“ für unsere Hilfesysteme, das tut durchaus Not. Vorurteile und Ängste der Betroffenen könnten so abgebaut werden und die Hilfesysteme als das gezeigt werden, was sie jetzt schon sind: stärkende und parteiliche Unterstützungs-, Beratungs- und gegebenenfalls Therapieangebote. Hilfesuchenden muss gezeigt werden, dass dies Möglichkeiten des Empowerments sind, Orte, wo den erkrankten Menschen fundiert und nachhaltig Unterstützung zu Teil wird.
Neben einer positiven Neuausrichtung dieser Anlaufstellen brauchen wir für eine individuelle, lösungsorientierte Betreuung mehr Personal in den jeweiligen Hilfsangeboten. Damit Betroffenen ausreichend Zeit für die vertrauensvolle Entwicklung einer neuen Perspektive, jenseits der Sucht, zu Teil werden kann – eine, die Mut macht und stärkt. Und wir brauchen noch mehr interdisziplinäre, fallbezogene Zusammenarbeit der verschiedenen Systeme. Ich weiß, welch großartige Arbeit hier von Fachkräften und interdisziplinären Teams jetzt schon geleistet wird. Das muss gefördert und verstärkt werden – und vor allem in der Öffentlichkeit noch mehr wahrgenommen werden.
Wir müssen dazu kommen, dass Hilfsangebote nicht als Endstation gesehen werden, sondern als Beginn eines neuen Lebens. Hier liegt die große Chance. Und ich wünsche allen Betroffenen die Kraft, sich auf den Weg zu machen und sich die Hilfe zu holen, die sie brauchen und verdienen. Denn, wie Deepak Chopra schreibt: Suchterkrankte suchen nach Lebensfreude, sie haben bisher nur aufs falsche Pferd gesetzt.

Beate Walter-Rosenheimer MdB
Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen
Sprecherin für Jugendpolitik und Aus- und Weiterbildung
Tel.: +49 30 22 77 1014
beate.walter-rosenheimer(at)bundestag.de
www.beate-walter-rosenheimer.de