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Von Sven Speerforck und Georg Schomerus

Sucht und Stigma – welche Rolle spielt das Krankheitskonzept?

„Suchtkrankheiten sind häufig und betreffen Menschen aus allen sozialen Schichten. Trotzdem werden Personen mit Suchtproblemen und ihre Angehörigen als Randgruppe betrachtet und stigmatisiert. Das Stigma vergrößert Suchtprobleme, es macht das Leben der Betroffenen und ihrer Angehörigen schwerer.“

So lautet die Einleitung des vom Bundesministerium für Gesundheit geförderten Memorandums „Das Stigma von Suchterkrankungen verstehen und überwinden“ (Schomerus et al., 2017). Für das Memorandum kamen Teilnehmer und Teilnehmerinnen aus Selbsthilfe, Gesundheitsförderung und Prävention, Suchthilfe, Rehabilitation, Psychiatrie, Psychotherapie, Soziologie, Ethik, Epidemiologie, Werbung und Stigmaforschung zusammen, um die spezielle Bedeutung des Stigmas von Suchterkrankungen besser zu verstehen und um neue Ideen zu entwickeln, wie man diesem besser und effektiver begegnen kann. Eine große Rolle während des angeregten Diskussionsprozesses spielte das aktuelle Krankheitskonzept von Suchterkrankungen. Aus Sicht der Autoren des Memorandums bedarf es einer konzeptionellen Weiterentwicklung hin zu einem aktiven Krankheitskonzept von Suchterkrankungen. Um zu einer Entstigmatisierung von Suchterkrankungen beizutragen, muss ein solches Krankheitskonzept aus unserer Sicht vor allem die folgenden Anforderungen erfüllen:

Es sollte einerseits den Schutz einer Diagnose bieten und andererseits nicht abwerten; es sollte positive Verläufe und Übergänge zulassen und die Autonomie des Einzelnen fördern. Ein aktives Krankheitskonzept von Suchtkrankheiten sollte deshalb auf das Kontinuum von psychischer Krankheit und Gesundheit Bezug nehmen, beispielsweise indem es die konsumierte Substanzmenge als kontinuierliches Maß zugrunde legt. Es muss viele Abstufungen und Vorformen umfassen, um für alle Menschen mit unterschiedlichen Schweregraden von Substanzproblemen zugänglich zu sein, und darf nicht durch Abschreckung frühe Interventionen verhindern. Diagnosen dürfen nicht lebenslang an den Menschen haften, sondern sollen Menschen so lange begleiten, wie sie nützlich für sie sind. Ein aktives Krankheitskonzept beinhaltet die Erwartung einer aktiven Mitarbeit des Erkrankten und stärkt dadurch dessen Selbstwirksamkeit sowie die Aktivierung von Prozessen der Selbstheilung. Aktive Mitarbeit ermöglicht ebenso das Aushandeln von individuellen Therapiezielen. Die aktive Mitarbeit des Erkrankten hängt von vorhandenen persönlichen Ressourcen und der Unterstützung des Umfelds ab. Sind die Voraussetzungen in diesen Feldern ungünstig, ist es Aufgabe der Gesellschaft hier Abhilfe zu schaffen. Da Schuldvorwürfe im Zentrum des Stigmas von Suchtkrankheiten stehen, ist eine differenzierte Sicht auf die Eigenverantwortung der Betroffenen notwendig. Eine nicht-stigmatisierende Konzeption von Verantwortung bei Suchtkrankheiten berücksichtigt, dass sowohl Individuum als auch soziales Umfeld Verantwortung übernehmen müssen, um eine Suchtkrankheit zu überwinden. Das Verhältnis von individueller und sozialer Verantwortung ist dynamisch, weil im Rahmen einer Suchtkrankheit die Fähigkeit, individuelle Verantwortung zu übernehmen, zeitweise in unterschiedlichem Ausmaß eingeschränkt sein kann. Es ist dann die soziale Verantwortung des Umfelds und der Gesellschaft, der betroffenen Person Unterstützung, Ermutigung und Ressourcen zur Verfügung zu stellen, damit diese ihrer individuellen Verantwortung wieder stärker gerecht werden kann.

Eine Diagnose sollte vor allem anderen den Betroffenen nützen und Heilung erleichtern. Die bewusste Akzeptanz von Subjektivität („Habe ich ein Problem mit der Substanz?“) und das aktive Aushandeln von Therapiezielen sind wichtige Bausteine eines Krankheitskonzeptes, das die Basis einer respektvollen, vorurteilsfreien Begegnung mit Hilfesuchenden in den verschiedenen Hilfesystemen darstellen könnte.

Literatur

Schomerus, G., Bauch, A., Elger, B., Evans-Lacko, S., Frischknecht, U., Klingemann, H., Kraus, L., Kostrzewa, R., Rheinländer, J., Rummel, C., Schneider, W., Speerforck, S., Stolzenburg, S., Sylvester, E., Tremmel, M., Vogt, I., Williamson, L., Heberlein, A., Rumpf, H.-J., 2017. Das Stigma von Suchterkrankungen verstehen und überwinden. SUCHT 63 (5), 253–259. 10.1024/0939-5911/a000501.

Memorandum "Das Stigma von Suchterkrankungen verstehen und überwinden" 


Dr. med. Sven Speerforck
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsklinikum Leipzig
Tel.: +49 341 972 453 0
sven.speerforck(at)medizin.uni-leipzig.de