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Von Regula Rickenbacher

Vom kleinen Gelingen – dank erfolgreichen minimalen Veränderungen

Es braucht Mut, abhängigen Eltern zuzugestehen, dass sie gewisse Dinge gut, vielleicht sogar herausragend machen. Es ist ein Wagnis, an das Gelingen von minimalen Veränderungen zu glauben und darauf zu vertrauen, dass diese die Lebenssituationen von Kindern in suchtbelasteten Familien nachhaltig verbessern. Dieser Artikel ist ein Plädoyer für ein beobachtendes Loslassen der SuchtberaterInnen und eine begleitete Rückgabe der Verantwortung an die abhängigen Eltern.

Schreiende Katastrophen versus stille Unsicherheit

Ja, es gibt sie, diese Momente, wo kein Zögern möglich ist. Es sind Momente, in denen sofort klar ist: diese Eltern können in ihrer derzeitigen Verfassung nicht für ihre Kinder sorgen und Kinderschutzmaßnahmen müssen sofort eingeleitet werden.

Viel häufiger jedoch sind Suchtberater*innen mit anderen Situationen konfrontiert: Da ist eine abhängige Mutter oder ein süchtiger Vater, die vieles auf die Reihe kriegen. Trotzdem stellen sich Fragenbezüglich des Wohlbefindens der Kinder. Werden sie genügend gepflegt, geschützt, begleitet, gefördert? Wie gestaltet sich die Beziehung zu Hause? Werden die Kinder gehört und verstanden? Trauen sie sich, ihre Bedürfnisse zu formulieren oder kippt bei zusätzlichen Anforderungen das labile Gleichgewicht?

Die Suchtberater*innen wissen viel über die Konsequenzen von erzieherischen Unterlassungen. Sie tragen Verantwortung und haben Erfahrung mit schwierigen Gesprächen von abhängigen Eltern. Oft stehen sie auch zwischen den Bedürfnissen der Eltern und dem Auftrag der Organisation. Das verstärkt die Angst, vielleicht etwas zu verpassen, zu spät zu sein und mit dem Vorwurf „unterlassen von Hilfe“ konfrontiert zu werden. Leider wird in Intervisionen und Supervisionen oft „nur“ der konkrete Fall besprochen. Hilfreich wäre zusätzlich die Erarbeitung einer gemeinsamen, klaren und verbindlichen Haltung, wie auch die Entwicklung von Leitfäden.

Unbemerkt rutscht man in die Rolle der Aufsicht oder wird zur/zum Besserwisser*in. Es kann sogar passieren, dass man sich in Fantasien dazu verleiten lässt, darüber nachzudenken, wie man es selbst mit den Kindern „richtig“ machen würde.... Räumlich gesehen steht man dann nicht mehr neben den Eltern und schaut mit ihnen gemeinsam auf das Kindswohl, sondern ist ihnen gegenüber und (ver-)urteilt sogar ihr schlechtes/unpassendes Verhalten. Das Wissen über mögliche Konsequenzen für die Kinder schleudert man als Vorahnungen den Eltern entgegen und trägt damit zur „selbsterfüllenden Prophezeiung“ bei.

Die Situation abhängiger Eltern

Diese Haltung kennen die abhängigen Mütter und Väter gut. Auch sie sind in einer Welt aufgewachsen, in welcher die schlechten Schulnoten, die streitenden Eltern, das fehlende Geld oder die abgebrochene Ausbildung im Zentrum standen. Vielleicht sind sie schon mehrfach in ärztlicher und/oder therapeutischer Behandlung gewesen und erlebten die gut gemeinten, aber großen Ansprüche an sie. Sie haben diese wieder und wieder zu erfüllen versucht und konnten ihre gefassten Ziele trotzdem nicht erreichen. Sie wollten und wollen nicht enttäuschen, weder den Suchtberater noch die Therapeutin und schon gar nicht ihre Kinder und sich selbst. Aber diese radikal geforderten, großen Veränderungen waren und sind zu viel! Auch im Moment der gemeinsam formulierten Zielsetzung wissen sie es eigentlich schon. Und so bleiben diese Ziele Wünsche. Erneute Überforderungen folgen, gepaart mit Selbstzweifel, Versagensängsten und Wut auf sich und die anderen.

Fokus auf das Positive

Wie ganz anders, vielleicht „angemessen verstörend“ (Maturana 1987, Andersen 1990, Kriz 2017) ist der radikale Fokus aufs Positive: Wie überraschend und wohltuend ist es, wenn die kleinen, gut funktionierenden Dinge und positiven Veränderungen erkannt und verstärkt werden, indem ihnen ein echtes Interesse entgegengebracht wird. Wie gut tun Fragen nach dem Gelingenden und zwar so detailliert, dass man es innerlich wieder erlebt, spürt und sieht. Wie berührend sind ernst gemeinte Komplimente für das, was bereits funktioniert und passt! Das macht Mut und Lust auf mehr.

Viele Untersuchungen beweisen die Kraft dieser Zentrierung. Gut gestellte, ins Detail gehende Fragen verstärken das Selbstwirksamkeitsgefühl und bewirken eine intrinsische Motivation, erneut so zu handeln.

Alle, die sich am Gelingen und an den nächsten kleinen Schritten orientieren, finden eher einen Weg. Die lösungsorientierten Berater*innen und Therapeut*innen fokussieren auf das, was funktioniert und machen es groß und wichtig. Sie helfen den Klient*innen das Ziel durch das Aufteilen in kleine Schritte erreichbar zu machen und sich dadurch auch selbstwirksam zu erleben. Lösungsfokussierung bedeutet, das, was jetzt bereits funktioniert und passt, zu erkennen.

Wie nahe man dabei in der effektiven Situation bei den Eltern sein kann, zeigt das Marte Meo-Konzept: „In Alltagssituationen wird das Verhalten der Beteiligten als Video aufgezeichnet und anschließend ausgewertet. Besonders interessant sind Szenen, wo eine Interaktion gut gelingt. Dann wird herausgearbeitet, welche Verhaltensweisen dafür besonders hilfreich waren. Dabei sollen die Stärken der Handelnden systematisch erkannt und hervorgehoben werden, aus denen man die Kraft schöpfen soll, Erziehungsprobleme aktiv zu beseitigen. Im Vordergrund stehen die Verbesserung der Kommunikation zwischen Erziehenden und Kindern sowie die Unterstützung der Entwicklung durch bewusste Erfahrungselemente. Ziel ist es, dieses Verhalten zu üben und zu stärken. Die Erkenntnisse können oft auch auf andere Situationen übertragen werden.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Marte_Meo)

Wirkungen

Diese Fokussierung aufs Positive bedeutet nicht, das Gesamtbild auszublenden. Im Gegenteil: indem die Suchtberater*innen die Eltern unterstützen, das was klappt öfter zu machen, bereiten sie den Boden für kontinuierliche Verbesserungen vor.

Die Konzentration auf das kleine Gelingen führt zu mehr Selbstwertgefühl und zu einer Selbstwirksamkeits-Überzeugung. Selbstwirksamkeit ist das zentrale Konstrukt in Banduras Social Cognitive Theory und wird heute in vielen Bereichen angewendet. Z.B. auch in der Gesundheitsprävention: Mit Selbstwirksamkeit schaffen es Menschen eher, schädliche Verhaltensweisen zu ändern (Rauchen, Alkohol) (https://www.psychomeda.de/lexikon/selbstwirksamkeit.html).

„Der Vorteil der Lösungsorientierten Beratung ist, dass der/die Klient*in mehr und mehr die eigenen Kräfte nutzt und nicht von den Schwierigkeiten und Problemen überwältigt wird. Der Gewinn für den/die Berater*in ist, dass er/sie die abhängigen Eltern hauptsächlich durch Fragen unterstützt, damit diese die Lösung selber finden und nicht -wie in anderen

Beratungsansätzen -unter dem Druck steht, die passende Lösung vorschlagen zu müssen.“ (https://www.institut-bildung-coaching.de/wissen/beratung-coaching-hintergrundwissen/loesungsorientierte-beratung.html).

Wenn es dem Therapeuten, der Therapeutin gelingt, in diesem Sinne auf der Seite der Eltern in ihrer Elternrolle zu bleiben, erreichen sie mehr für die Kinder und ihnen selber macht die Arbeit viel mehr Freude.


Regula Rickenbacher
klinische Heilpädagogin und MAS in systemisch lösungsorientierter Beratung und Therapie
Buchs, Schweiz
kontakt(at)r-aufwaerts.ch

www.r-aufwaerts.ch