„Wenn du erst mal hinschaust, siehst du immer mehr...“ - Suchthilfe im Spannungsfeld zwischen Arbeitsauftrag und Kinderschutz
Ich arbeite seit über 20 Jahren in der niedrigschwelligen Drogenhilfe in Darmstadt, einer Einrichtung des Diakonischen Werkes Darmstadt-Dieburg. Davon 7 Jahre im Kontaktladen und bis dato in der psychosozialen Beratung für Substituierte. Für mich war es nicht der Fall Kevin aus Bremen[1], der mich dazu veranlasst hat „hinzuschauen“ auf die Kinder unserer Klient*innen.
Für mich war es der Fall Anke S. aus Darmstadt. Selbige wurde mit ihrer kleinen Tochter Jasmin über einen längeren Zeitraum von 2000 bis ca. 2005 in unserem Haus betreut. Frau S. war mit ihrer Tochter nahezu täglich vor Ort. Zum damaligen Zeitpunkt durften sich Kinder noch in unserem Kontaktladen aufhalten. Die Intention war, dass dieser Ort vermeintlich besser für die Kinder war, als die offene Drogenszene. Aus heutiger fachlicher Sicht, entscheiden wir aus unterschiedlichen Gründen anders. Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren ist der Aufenthalt in unserer Einrichtung untersagt.
Wir haben mit Frau S. Gespräche geführt, um ihr nahezubringen, dass unsere Einrichtung nicht der beste Ort für ihre Tochter sei. Selbigen begegnete sie mit freundlicher Ignoranz. Als Jasmin mit ca. 6 Jahren in Obhut genommen wurde, stellte sich heraus, dass das Mädchen schwerste sexuelle Missbrauchserfahrungen gemacht hatte. Wir haben zu diesem Zeitpunkt keine Auffälligkeiten wahrgenommen. Heute würde ich sagen: wir hatten nicht richtig hingeschaut.[2]
Seit ca. 2009 sind wir dabei in unserer Einrichtung den Blick auf die Kinder der suchtkranken Menschen zu richten. Die Begeisterung für die Erweiterung unseres „selbsternannten Arbeitsauftrages“ hielt sich in unserem Team in Grenzen. „Was habe ich mit den Kindern zu tun? Dafür ist das Jugendamt zuständig.“ Vorbehalte und Vorurteile wurden offengelegt, die einer guten Zusammenarbeit mit dem Jugendamt im Wege stehen.
Auf zahlreichen Fortbildungen, die ich zum Thema „familienorientierte Suchthilfe“ besuchen durfte, musste ich die Erfahrung machen, dass diese Haltung keineswegs nur bei uns anzutreffen, sondern weit verbreitet war - und auch auf Gegenseitigkeit von Seiten der Kolleg*innen der Kinder- und Jugendhilfe beruht. Dies kann als eine Folge nicht gewachsener Kooperationsstrukturen gesehen werden. Vielleicht auch als eine Erklärung dafür, dass viele Suchthilfeeinrichtungen immer noch nicht die Kinder ihrer Klientel (mit)erfassen. Demzufolge kommt es, aus meiner Sicht, auch immer wieder zu Versäumnissen und unglücklichen Missverständnissen in der Zusammenarbeit. Das ist fatal, denn die Suchthilfe kann ohne gut funktionierende Kooperationen ihren Teil zum Kinderschutz nur sehr begrenzt beitragen.
In Darmstadt hat sich die Zusammenarbeit mit dem zuständigen Jugendamt im Laufe der Jahre deutlich verbessert. Das liegt u.a. auch daran, dass wir mittlerweile mit Teilen des Kinder- und Jugendhilfesystems vor Ort gut vernetzt und in themenspezifischen Arbeitskreisen vertreten sind. Es war ein Weg der kleinen Schritte, aber: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.
In einem dreijährigen kostenfreien Coaching, von 2013 bis 2016 durch die Drogenhilfe Wesel, unterstützt durch die Stiftung Auridis, bekam unsere Arbeit mit suchtbelasteten Familien Struktur und wir mehr Handlungssicherheit in diesem besonderen und hochsensiblen Arbeitsfeld. „Fitkids Darmstadt“ wurde geboren, ein Angebot für Kinder und Eltern aus suchtbelasteten Familien.
An dieser Stelle möchte ich mich hierfür aber auch bei Nacoa und allen Kolleg*innen bundesweit bedanken, die uns zusätzlich bei Fragen mit eigenen Konzepten, Vorlagen und Tipps vorbehaltlos unterstützt und ihr Wissen und ihre Erfahrungen mit uns geteilt haben. Ohne diese großzügige und „kostenlose“ Unterstützung wären wir bei Weitem nicht an dem Punkt unserer Arbeit mit suchtkranken Familien wo wir heute sind. Denn wie die meisten der KollegInnen machen wir diese Arbeit „nebenbei“ zusätzlich zu unserem eigentlichen Arbeitsauftrag, d.h. wir sitzen dauerhaft zwischen den Stühlen mit zeitlich z.T. stark begrenzten Ressourcen. Diese Situation ist unbefriedigend und kräftezehrend.
Die Arbeit mit suchtkranken Eltern, bzw. suchtbelasteten Familiensystemen, ist häufig sehr zeitaufwendig und herausfordernd.
Es ist ein fortlaufender (Lern)Prozess, der sich immer wieder mit den folgenden o.ä. Fragen auseinandersetzen muss:
- Was ist unser Auftrag als Suchthilfe in der Arbeit mit suchtbelasteten Müttern/Vätern?
- Welcher Voraussetzungen bedarf es, um diese Arbeit gut und zufriedenstellend zu machen?
- Was können wir leisten?
- Wo sind unsere Grenzen?
- Wo sind wir kontraproduktiv und verhindern ggf. Hilfe von außen?
- Welche Erwartungen haben wir an unsere Klientel bzgl. Erziehungskompetenz und Fürsorge?
- Welche Qualitätskontrolle haben wir als Einrichtung: „Wildes Vorgehen“ vs. konkretem, strukturellem Handeln“?
Der Kern unserer Arbeit als Suchtberater*innen ist es, unsere Eltern für die besondere Situation ihrer Kinder zu sensibilisieren, sie in ihrer Elternrolle zu stärken und sie zu ermutigen bei Bedarf Hilfe anzunehmen, sozusagen Brücke zu sein zur Kinder- und Jugendhilfe.
Es ist unabdingbar, dass sich die gesamte Einrichtung (immer wieder!) klar dafür entscheidet:
- Kindeswohl hat oberste Priorität!
- Der erste Blick geht auf die Kinder!
Diese Haltung bringt uns nicht selten in einen Konflikt mit unserem eigentlichen Arbeitsauftrag, der Beratung und Unterstützung von erwachsenen Suchtkranken. Aus diesem Grund bedarf es, bei aller Feinfühligkeit im Umgang mit dem Thema, in der Beratung auch einer sehr hohen Konfliktbereitschaft und Kompetenz der Berater*innen. Man läuft Gefahr in den Augen der Eltern vom „Retter“ zum „Verräter“ (bzgl. Jugendamt) zu werden. Es hat sich als sehr hilfreich erwiesen den Eltern klar und deutlich zu vermitteln, am besten gleich zu Beginn des Beratungsprozesses, was von Ihnen erwartet wird (z.B. stabile Substitution, keine Gewalt gegen Kinder und in der Partnerschaft, etc.) als Elternteil. Ebenso ist es zielführend, mögliche Konsequenzen zu benennen, wenn aus Sicht der Drogenhilfe die Fürsorge gegenüber den Kindern nicht mehr gegeben ist. Größtmögliche Transparenz ist gefordert, um dem Vertrauen der Eltern, welches im Beratungsprozess unter Umständen belastet wird, gerecht zu werden. Die Versuchung zu lange mit einer Meldung an das zuständige Jugendamt zu warten, in der Hoffnung, die Eltern „ins Boot zu holen“, ist immer wieder groß – und geht nicht selten auf Kosten der Kinder.
Jeder Fall ist einzigartig und sollte, bei Bedarf, von den zuständigen Mitarbeiter*innen mit ausreichend Zeit und im Team besprochen, nächste Handlungsschritte überlegt –und zu einem späteren Zeitpunkt reflektiert werden können, um die Qualität der Beratung sicherzustellen, auch in Form von Supervision.
Aus meiner Sicht ist es sinnvoll, wenn auch nicht unproblematisch, eine/n, mit dem Kinderthema erfahrene/n, Kolleg*in mit dem sog. „Kinderhut“ auszustatten, der/die in regelmäßigen Abständen von außen auf die Familien schaut, gemeinsam mit der/m zuständigen Berater*in die nächsten Schritte überlegt und bespricht, aber auch mögliche Interventionen hinterfragt. Die Gefahr unbewusst systemerhaltend und somit nicht im Sinne des Kindeswohls zu arbeiten ist immer wieder gegeben. Dies liegt u.a. auch am oftmals langjährigen Beratungsprozess, der eine Entstehung „blinder Flecken“ (nicht Wahrnehmung z.B. langfristig gewachsener Defizite) begünstigt.
Wichtig ist es immer wieder, den eigenen Arbeitsauftrag und die damit verbundenen Handlungsmöglichkeiten zu prüfen - aber auch die Grenzen klar zu benennen.
„Wenn du erst mal hinschaust, siehst du immer mehr“. Dieser Hinweis einer erfahrenen Kollegin hat sich als wahr erwiesen. Es ist häufig nicht schön was wir sehen... aber es ist notwendig hinzuschauen! Die Suchthilfe muss sich positionieren und (Mit)Verantwortung übernehmen. Der Grad der Suchterkrankung bei Eltern ist maßgeblich, wenn nicht ausschlaggebend dafür, ob sie ihrer Aufgabe gegenüber ihren Kindern gerecht werden können.
Familienorientierte Suchthilfe und eine angemessene soziale, seelische und gesundheitsfördernde Unterstützung der Kinder muss Teil der Regelversorgung im Suchthilfesystem werden. Dafür bedarf es Raum und Zeit...und Geld!
[1] Kevin K., Sohn drogenabhängiger Eltern, wurde 2006 im Alter von 2.5 Jahren mit 21 Knochenbrüchen und Blutergüssen tot aufgefunden. Zahlreiche Institutionen der Sucht-, Kinder-undJugendhilfe und des Gesundheitswesen waren im Vorfeld in das Familienleben involviert.
[2] Jasmin nahm sich, sucht- und psychisch krank, mit 18 Jahren 2017 das Leben

Heike Reineke
Dipl. Sozialarbeiterin, systemische Beraterin, Hypnotherapeutin
Referentin und Lehrbeauftragte an der Hochschule Darmstadt zu o.g. Thema
Koordination „Fitkids Darmstadt“
hei.reineke(at)web.de