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Von Judith Bugreev

Zur Situation von Kindern in suchtbelasteten Familien - Ein Überblick über aktuelle Projekte und Vorhaben des Bundesministeriums für Gesundheit

Es gibt viel zu viele Kinder und Jugendliche, die in suchtbelasteten Familien aufwachsen, die zu oft auf sich allein gestellt sind und nicht immer die richtige Hilfe finden. Sie starten häufig mit schlechteren Chancen ins eigenständige Leben als andere Kinder. Eine aktuelle Schätzung, die das Team um Kraus et al.1 auf der Grundlage der Daten des Epidemiologischen Suchtsurveys (ESA) aus dem Jahr 2018 vorgenommen hat, legt dar, dass die Zahl der betroffenen Kinder und Jugendlichen geringer ist, als bisherige Schätzungen angenommen haben.

Die Autoren zeigen, dass 5,2–7,9 Prozent der Kinder und Jugendlichen (686.482–696.279) in einem Haushalt mit mindestens einem Erwachsenen leben, der eine alkoholbezogene Störung (Missbrauch oder Abhängigkeit nach DSM-IV) aufweist. 0,38–1,05 Prozent der Kinder und Jugendlichen (93.229–142.141) mit mindestens einer Person leben, die eine substanzbezogene Störung aufgrund des Konsums illegaler Drogen ausweist. Demnach ist insgesamt von circa 750.000 Kindern und Jugendlichen auszugehen.

Doch auch wenn diese Zahlen deutlich niedriger sind als die bisher geschätzten 3 Millionen, so ändert das nichts an der Tatsache, dass zu viele Kinder und Jugendliche in Deutschland unter Bedingungen aufwachsen, die weit entfernt sind von der Bullerbü-Idylle aus Astrid Lindgrens Büchern. Während einige dieser Kinder und Jugendlichen eine erstaunliche Resilienz aufweisen, ausreichende Unterstützung im Freundes- oder Familienkreis finden oder auch andere stabile Komponenten in ihrem Leben haben, leiden andere erheblich unter der Situation. Sie brauchen Unterstützung, Verlässlichkeit und Fürsorge. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, dass auch diese Kinder und Jugendlichen Hilfe bekommen und die gleichen Chancen für ein gesundes Aufwachsen erhalten. Zugleich müssen wir aber auch die Eltern besser in den Blick nehmen und unterstützen, aber auch all jene, die für die Kinder eine potentielle Stütze sein können.

Bereits 2003 hat die damalige Drogenbeauftragte Marion Caspers-Merk ihre Jahrestagung unter das Motto „Familiengeheimnisse – wenn Eltern suchtkrank sind und Kinder leiden“ gestellt. Seitdem hat das Thema – gerade auch von Bundesseite – viel Aufmerksamkeit erfahren, viele Projekte wurden initiiert, viele Gespräche geführt, viele Informationen aufgelegt. Oft ist die Reichweite der Projekte begrenzt und vieles ist nicht überall bekannt. Ich will diese Chance daher nutzen, einen Überblick zu geben über aktuelle Projekte, die das Referat 125 – Sucht und Drogen im Bundesministerium für Gesundheit in diesem Themenbereich begleitet, fördert bzw. kürzlich gefördert hat. Im Rahmen unserer Möglichkeiten unterstützen wir die Entwicklung, Evaluation und Implementierung von innovativen Forschungs- und Modellprojekten – strukturelle Förderungen oder langfristige Unterstützungsmöglichkeiten sind und bleiben Aufgabe der Kommunen und Länder bzw. teilweise der Sozialversicherungsträger. Zur besseren Nachvollziehbarkeit möchte ich mich an den einzelnen Zielgruppen orientieren, die in den Blick zu nehmen sind:

1) die Kinder und Jugendlichen

2) die Eltern und

3) die relevanten Fachkräfte aus Jugendhilfe und Jugendarbeit, Schule und Kita.

Forschungs- und Modellprojekte des Bundesministeriums für Gesundheit

Kinder und Jugendliche

Kinder und Jugendliche, die mit einem suchtbelasteten Elternteil aufwachsen, brauchen konkrete Hilfsangebote. Da es Mitte der 2000er Jahre an einem standardisierten und evaluierten Präventionskonzept fehlte, hat das BMG die Entwicklung und die Evaluation des inzwischen weit verbreiteten Gruppenangebots „Trampolin“ für Kinder im Alter von 8 – 12 Jahren gefördert. Ältere Kinder und Jugendliche sind häufig in der Lage sich selbständig Hilfe zu suchen. Da das Internet ein Teil ihrer Lebensrealität ist, müssen sie diese Hilfe dort unkompliziert finden. Das BMG hat daher eine bundesweite „Hilfe vor Ort“-Suchmöglichkeit auf dem Internetportal von www.kidkit.de für Jugendliche, deren Eltern substanzgebundene Störungen oder Glücksspielsucht aufweisen, gefördert. Geplant ist zudem ein Projekt zur überregionalen Verbreitung der sogenannten „Kidstime Workshops“ – ein sozialkompensatorisches Angebot, bei dem die auf die elterliche Erkrankung bezogene Informationsvermittlung und die Entlastung der Kinder im Mittelpunkt stehen. Eine Bekanntmachung dazu ist veröffentlicht, demnach soll die Projektförderung spätestens im Oktober 2021 beginnen.

Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) bietet mit den Broschüren „Bitte hör auf! Deine Kinder Lars & Laura“, „Luis und Alina – Tagebuch. Wenn die Eltern trinken“ und „Mia, Mats und Moritz ... und ihre Mama, wenn sie wieder trinkt“ kindgerechte Formate für Kinder aus suchtbelasteten Familien im Vorschul- und Schulalter an und ermutigt diese, Hilfsangebote zu nutzen.

Eltern

Eine Fokussierung allein auf die betroffenen Kinder und Jugendlichen greift jedoch zu kurz. Die Verbesserung der Problemlagen der Eltern, bei denen teilweise keine Krankheitseinsicht besteht, ist ein zentraler Faktor zur Veränderung der Situation. Einen wichtigen Beitrag dazu wird das in dieser Ausgabe von Partnerschaftlich erwähnte „Rahmenkonzept“ leisten, das der Gesamtverband für Suchthilfe e.V. und der Deutsche Caritasverband e.V. gemeinsam mit Förderung des BMG entwickelt haben.

Bereits 2019 wurde das unter der Leitung der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen entwickelte und evaluierte „Shift-Elterntraining“ als Manual veröffentlicht. Diese Gruppenintervention, die die Erziehungskompetenzen crystal-konsumierender Eltern stärkt und gleichzeitig drogenbezogene Probleme anspricht, kann in der Suchtberatung wie in der Jugendhilfe, idealerweise jedoch in einer Kooperation der beiden, zur Anwendung kommen. Aktuell wird das Manual für den gesamten Bereich der illegalen Drogen erweitert, wobei das Thema Angehörigenarbeit mehr Aufmerksamkeit erhält.

Gerade gestartet ist die Entwicklung des „Suchttherapeutischen Akutprogramms für Eltern zur ressourcenorientierten Kompetenzstärkung in der Erziehung – STAERKE“ durch das ZI Mannheim. Das ambulante Behandlungsangebot enthält sowohl Elemente der suchtmedizinischen Behandlung zur Erreichung einer stabilen Abstinenz, als auch Elemente, welche die elterlichen Erziehungsfähigkeiten stärken. Das zu entwickelnde Manual für die ambulante Suchtbehandlung wird voraussichtlich zu Beginn des Jahres 2024 vorliegen.

Zudem hat sich das BMG in der Förderung spezifischerer Projekte engagiert: seit kurzem steht das Implementierungshandbuch zur Umsetzung des „Dresdner Versorgungspfads Crystal“ für weitere Krankenhäuser zur Verfügung. Es bietet ein bedarfsorientiertes, interdisziplinäres und systemübergreifendes Versorgungskonzept für drogenkonsumierende Schwangere und Mütter nach der Geburt. Gemeinsam mit der Landesregierung Bayern wird der Aufbau eines „FASD-Kompetenzzentrums“ in München gefördert, das neben Informationen die Früherkennung und Versorgung von FASD-betroffenen Kindern stärken soll.

Neben den betroffenen Kindern und Jugendlichen sowie deren Eltern gibt es eine Vielzahl von professionellen Fachkräften, die die Situation der betroffenen Kinder nachhaltig verbessern können. Dies betrifft Pädagoginnen und Pädagogen, die ein Problem frühzeitig wahrnehmen können, genauso wie sensibilisierte, gut geschulte Mitarbeitende im Sucht- und Jugendhilfesystem. Auch hierfür wurden und werden seitens des BMG, Projekte gefördert.

Seit 2019 steht für Fachkräfte der Jugend- und Suchthilfe ein internetbasiertes vom Universitätsklinikum Ulm entwickeltes Qualifizierungsmodul zur Verfügung. Aktuell werden die durch die Drogenhilfe Köln entwickelten „KIDinare“ für Pädagoginnen und Pädagogen sowie Mitarbeitende der Jugendhilfe unter www.kidinare.de angeboten. Die Online-Schulung soll diese Fachkräfte sensibilisieren, potentiell betroffene Kinder zu erkennen und ihnen konkrete Hilfestellung geben, wie sie diese Kinder unterstützen oder an Hilfe weiterleiten können.

Zur Verbesserung der wünschenswerten Zusammenarbeit zwischen Jugend- und Suchthilfe sowie medizinischer Versorgung erarbeitet ein aktuell laufendes Projekt des IKJ Institut für Kinder- und Jugendhilfe Wirkungsfaktoren für eine gelingende Zusammenarbeit dieser Akteure sowie daraus ableitend Handlungsempfehlungen für die Verantwortlichen auf kommunaler und Landesebene. Die Ergebnisse werden fortlaufend auf www.jugendhilfe-suchthilfe.de eingestellt.

Die Abschlussberichte zu all diesen vom BMG geförderten Projekten können auf der Homepage des BMG unter https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/publikationen/drogen-und-sucht.html abgerufen werden.

Darüber hinaus hat die DHS die Broschüren „Suchtprobleme in der Familie. Informationen und Praxishilfen für Fachkräfte und Ehrenamtliche im Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesen“ sowie „Erwachsenwerden in Familien Suchtkranker. Eine Arbeitshilfe für Fachkräfte und Ehrenamtliche im Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesen sowie der Arbeitswelt“ herausgegeben.“. Außerdem sind Begleitmaterialien für die zuvor erwähnten Broschüren, die sich an Kinder richten, verfügbar.

Umsetzung der Empfehlungen der AG KpkE

Ein wichtiger Beitrag zur Verbesserung der Situation von Kindern in suchtbelasteten Familien kann durch die Umsetzung der Empfehlungen der „Arbeitsgruppe Kinder psychisch- und suchterkrankter Eltern (AG KpkE) geleistet werden. Der Bundestag hatte die Bundesregierung in seinem Beschluss2 vom 20. Juni 2017 zur Situation von Kindern psychisch kranker Eltern unter anderem aufgefordert, eine zeitlich befristete interdisziplinäre Arbeitsgruppe einzurichten, die einvernehmliche Vorschläge zur Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil psychisch oder suchterkrankt ist, erarbeiten sollte. In ihrem Abschlussbericht (online abrufbar unter https://www.ag-kpke.de/wp-content/uploads/2019/12/Abschlussbericht-AG-Kinder-psychisch-kranker-Eltern.pdf) hat die Arbeitsgruppe insgesamt 19 Empfehlungen zur Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen mit einem psychisch- oder suchterkrankten Elternteil und ihren Familien niedergelegt. Mit dem Gesetzentwurf zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz - KJSG) werden sieben Empfehlungen der Arbeitsgruppe aufgegriffen: die Einführung eines Rechtsanspruchs auf bedarfsgerechte, flexible und niedrigschwellige Unterstützung zur Alltagsbewältigung in Notsituationen durch die Etablierung einer neuen Hilfeart in den erzieherischen Hilfen nach §§ 27 ff. SGB VIII sowie Regelungen zur direkten Inanspruchnahmemöglichkeit, bedarfsgerechter Ausgestaltung und Qualitätssicherung; die Streichung des aktuell noch bestehenden Erfordernisses des Vorliegens einer „Not- und Konfliktlage“ beim eigenen Beratungsanspruch nach dem SGB VIII für Kinder und Jugendliche; die Einführung einer Kooperationsverpflichtung der Kassenärztlichen Vereinigungen mit den kommunalen Spitzenverbänden auf Landesebene im SGB V zur Verbesserung der Zusammenarbeit von Vertragsärztinnen und -ärzten mit den Jugendämtern; und die gesetzliche Klarstellung, dass auch die Unterstützung von Familien bei der Orientierung an den Schnittstellen zu anderen Leistungssystemen zu den Aufgaben des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe gehört. Der Gesetzesentwurf wurde am 29.01.2021 in 1. Lesung im Bundestag beraten und wird aktuell im federführenden Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend beraten. Die gesetzliche Sicherstellung im SGB V zur wechselseitigen Informationsübermittlung über erbrachte Leistungen der Krankenkassen und der Träger der Jugendhilfe zur besseren Abstimmung und Kooperation wurde mit dem Masernschutzgesetz umgesetzt, das zum 1. März 2020 in Kraft getreten ist. Das BMG wirkt zudem darauf hin, dass die Empfehlungen zur effektiven Nutzung und Umsetzung des Präventionsgesetzes in den dafür relevanten Gremien Beachtung finden und umgesetzt werden.
 

Zusammenfassend lässt sich sagen: einiges hat sich in den letzten Jahren getan und vieles wird aktuell gestaltet. Die Verbesserung der Situation für Kinder, die in suchtbelasteten Familien aufwachsen, hatte hohe Priorität – sie wird jedoch auch weiterhin hohe Priorität in unser aller Anstrengungen haben müssen.

Literatur

1  Kraus, Ludwig et al. (2020): Estimating the number of children in households with substance use disorders. Preprint. DOI: 10.21203/rs.3.rs-46106/v1

2  Deutscher Bundestag (2017): Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Hilfen für Kinder psychisch kranker Eltern. BT-Drucksache 18/12780


Judith Bugreev
Referentin im Referat Drogen und Sucht im Bundesministerium für Gesundheit
Referat 125 – Drogen und Sucht
Bundesministerium für Gesundheit
Judith.bugreev@remove-this.bmg.bund.de